Neue Leiden an der Ostfront
Im Juli 1941 verschlägt es Oskar wieder in den Osten. Der Wechsel versetzt Oskar einen „Kulturschock: „..so etwas primitives und armseliges habe ich noch nicht gesehen…genauso wie in Bosnien“. Der Vormarsch ist mit großen Strapazen verbunden: „von gestern auf heute wieder 60 km gemacht“. Oskar berichtet von seiner Kompanie: „viele junge Leute von ca. 20 Jahren. Die fallen wie die Mücken, bei den langen Märschen usw.“ Er liegt am Dnjepr in der Ukraine. Vom Feind redet er zu diesem Zeitpunkt noch mit deutlicher Hochachtung: „der Russe kämpft äußerst tapfer und verbissen“. Die eigenen Verluste und die Strapazen nehmen zu. „Von meinem Zug fehlen jetzt der Zugführer und 4 Unteroffiziere…lagen tagelang in der Scheiße“. Er liegt unter Artilleriefeuer und Angriffen im Tiefflug: „das Schwerste, was ich bis jetzt erlebt habe…Tag und Nacht im Freien, nachts kalt und regnet viel….8 Tage nicht rasiert und gewaschen, aber das macht nichts, wenn man nur lebt“. Ende August, im Südosten von Kiew, beklagt Oskar, dass man im „Drecks-Russland nichts kaufen kann“. Kein Verständnis hat der Frontkämpfer dafür, dass in Heimat gefeiert wird, während er und seine Kameraden täglich dem Tod ins Auge blicken. „Stimmt das“, fragt er Amanda, „dass in Gartenstadt zu m Blumenfest getanzt wurde? Hier verrecken jeden Tag die Lanzer, haben oft tagelang nichts zu fressen, und die Heimat würde feiern“. „…Auf einmal wurden unsere Posten und Sicherungen von Zivilisten beschossen und mit Handgranaten beworfen. Dabei gab es 7 Tote und 30 Verwundete. Als Vergeltungsmaßnahme wurden zahlreiche Zivilisten erschossen, und alles, Kinder und Frauen aus dem Dorf herausgetrieben und dann die Häuser angezündet…Die sind auf die Knie gefallen und wollten uns die Hände küssen. Aber uns lässt das kalt…“
In der ersten Septemberhälfte 1941 verbringt Oskar mindestens 2 Wochen in einer Stellung an einem Fluss. Hüben und drüben liegen Deutsche und Russen in Rufweite einander gegenüber. „Tagelang Regen und nur Regen…kamen die Hunde nachts mit Booten herüber, aber wir haben sie mit unseren Maschinengewehren zusammengemäht und nun haben sie genug.“ Oskar berichtet, dass die Russen Lautsprecher am anderen Ufer des Flusses aufstellen, um deutsche Soldaten durch Propaganda zum Überlaufen zu bewegen: „dann spricht als einer: „deutsche Soldaten, kommt rüber zu uns, bei uns gibt es Wein und Frauen und freie Heimkehr nach dem Kriege. Das Sauvolk kann damit noch nicht mal einen Hund locken, geschweige denn einen deutschen Soldaten“.
In der zweiten Oktoberhälfte versucht Oskar seiner Amanda zu erklären, weshalb ein Ende des Krieges sich hinzieht: “…das ist halt ein Riesenreich. Wir haben hier in Russland schon fast 2.000 km zusammenmarschiert“. Am 03.11.41 spricht wieder mehr Zuversicht aus seinen Worten: „…da wo wir sind, wird es in einigen Tagen auch Schluss sein und der Russe auf der ganzen ‚Halbinsel’ (gemeint ist die Krim) entweder gefangen oder vernichtet sein.“ Doch im gleichen Brief meldet sich auch Frust: „…und dann wieder rein in die Scheiße…, und kommen wir mal in ein Haus (Lehmhütte), dann fressen uns bald die Flöhe…Wenn wir marschieren und es heißt ½ Stunde Rast, und es regnet nicht oder ist nicht so kalt, da zieht jeder das Hemd aus und alles sitzt dann da wie die Affen, und fängt Läuse.“ Mitte November ist Oskars Einheit „wieder richtig drin. In den ersten 2 Tagen über 40 Kameraden durch Tod/Verletzung verloren, und jeden Tag kommen neue hinzu. Wir sind in der Kompanie nur noch 48 Mann…Was wir hier zur Zeit erleben, ist das Schrecklichste, was ich mir denken kann…ich bin gespannt, wie lange das noch gehen soll. Denn wenn es noch lange dauert, sind wir ja alle kaputt“. Erstaunlich mutet es an, dass sich Oskar ungeachtet der von ihm geschilderten verzweifelten Lage immer noch an den Glauben an Hitler und die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende klammert: “der Krieg geht bestimmt nächstes Jahr aus. Und wir können dem Führer dankbar sein, dass er so gehandelt hat. Denn die Russen wollten bei uns ja einfallen…“.Von den Zweiflern in der Heimat sagt er: „…und solche Lumpen wollen zu Hause die Stimmung vergiften. Kannst Dich darauf verlassen, nächstes Jahr ist Schluss“. Beim Lesen seiner Schilderung der Situation findet man keine Antwort auf die Frage, wie er diese Zuversicht angesichts seiner fast ausweglos scheinenden Lage behalten kann: „…wir lagen fast 14 Tage in unseren Löchern, über 10° Kälte, und wir hatten nicht mal unsere Mäntel. Die waren hinten beim Tross verladen“. Besonders bedrückend wirkt die Schilderung vom Weihnachtsabend. Es ist für Oskar das dritte Weihnachten im Feld, fern der Heimat und seiner Amanda. „So saßen wir am Heiligen Abend in unserem Erdloch. Kurz vorher hatten uns die russischen Flieger noch das Dach über dem Kopf weggeschossen…Da wurde das Loch zugehängt, eine Kerze angezündet, und das war unsere Weihnacht. Noch mittags hatten wir einige Kameraden verloren. Überhaupt haben wir ganz schwere Verluste gehabt. Unsere Kompanie ist nur noch ein armseliger Haufen“. Selbst in dieser elenden, dramatischen Situation hält Oskar in seinem Brief vom 21.02.42 krampfhaft an seinem Glauben fest: „… unsere Führung weiß schon, was sie will… , 1942 geht es mit den Russen zu Ende“. Daher wundert er sich, als – im Widerspruch zu dem von ihm in Kürze erwarteten Kriegsende – die Nachricht bekannt wird, „dass im Frühjahr 2.000.000 eingezogen werden, darüber bin ich sehr erstaunt“. Der einst so friedliche, fröhliche und musizierende Oskar hat sich während seiner Zeit als Frontsoldat zu einem anderen Menschen gewandelt, zu einem kalten Kämpfer, der ohne Mitgefühl tötet: „den Nahkampf mit den Russen kenne ich zur Genüge…wenn wir im Einsatz sind, bin ich vollkommen gefühllos. Da hab’ ich nur den Gedanken, alles was vor mir ist umzulegen. Es können nicht genug von diesem Gesindel verrecken.“ Er liegt in schweren Gefechten: „…mit einer Unmenge Panzer kommen sie. Aber unsere Flak, Pak und Artillerie haut auch die stärksten Panzer zusammen, dass es nur eine Pracht ist“.
Etwa in dieser Zeit hat sich Oskar entschieden, Amanda zu ehelichen: „…die Papiere für die Ferntrauung habe ich nun auch abgegeben“. Am 18.03.42 berichtet Oskar von seiner Trauung im Feld: „..also ich wurde heute morgen um 11h von meinem Kommandeur getraut. Bin also Dein Mann, auch wenn Du nicht davon weißt…unser Spieß hat aus Anlass meiner Trauung einen Unteroffizier-Abend angesetzt. Zu unserer Überraschung gab es Wein, Kaffee, Brot, Wurst und Käse!“ Bei solchen Gelegenheiten dürfte es doch selbst den ahnungslosen Landsern (Oskar redet meist von ‚Lanzern’) klar geworden sein, dass die höheren Ränge des Militärs auch noch in schwierigster Kriegslage einen beachtlich hohen Lebensstandard genießen durften.
Die letzte erhaltene Feldpost kommt aus dem Osten. Sie ist vom 16. Mai 1942 datiert und enthält keinerlei Hinweis auf eine besonders kritische Situation. In seinen vorausgehenden Briefen hat Oskar jedoch mehrfach berichtet, dass schwere Verluste auf beiden Seiten der Front an der Tagesordnung waren. So muss die Frage nach dem Schicksal von Oskar letztklich unbeantwortet bleiben. Es sieht so aus, als habe ihn das Glück, das ihm bis dahin – an der Westfront ebenso wie bei Stoßtruppunternehmen in der Ukraine und auf der Krim – stets zur Seite gestanden hatte, im Frühlingsmonat Mai 1942 verlassen hat. Vielleicht ist er nur wenige Tage nach seiner Ferntrauung mit Amanda gefallen. Es gibt lediglich einen einzigen späteren Brief, den Amanda knapp ein Jahr später, im Mai 1943, erhalten hat. Absender ist allerdings nicht „ihr Oskar“, sondern ein Martin aus Mannheim. Er schreibt ihr in ähnlich vertrauter Form der Anrede wie zuvor ihr ferngetrauter Ehemann Oskar, mit der Bitte um ein Wiedersehen. Er spielt auf das Schicksal an, von dem Amanda im Zusammenhang mit Oskar getroffen wurde. Wir erfahren jedoch nicht, welcher Art das Schicksal war, von dem hier die Rede ist. Es scheint schon länger Kontakte zwischen Amanda und Martin gegeben zu haben. Im Unterschied zu Oskar hat Martin wohl nur ein kurzes Liebesabenteuer gesucht. Denn gerade während der Zeit, als sie schwer erkrankt war, hat er sie im Stich gelassen. Nun wollte Martin – wie es scheint – die Liebelei wieder aufleben lassen. Wiederum bleibt im Dunkel, welchen Verlauf während des Krieges und danach das Verhältnis zwischen Amanda und Martin genommen haben mag.