16.05.97: Fahrt an die Inselostküste – nur vereinzelte Brandseeschwalben und Mittelsäger. Südlich des reizvoll in die Dünen-Heide-Landschaft eingefügten Hotels „Heiderose“ lege ich das Fahrrad in die Büsche, folge einem schmalen Pfad – vielleicht ein Wildwechsel – zwischen moosbewachsenen Feuchtstellen und trockener Wachholder- und Kiefernheide. Zunächst zeigt sich ein Stück Rehwild; ein Bock mit kümmerlich ausgebildetem, vom Bast umhüllten Kopfschmuck äugt zu mir herüber und wendet sich dann ab. Im nächsten Moment – das Fernglas angesetzt -, kein Zweifel: ich habe einen Mufflonwidder vor mir, ein Exemplar des in Deutschland verschiedentlich ausgewilderten Muffelwildes, eines in Südeuropa beheimateten Wildschafes. Das heißt, zunächst habe ich nur die beiden mächtigen, wie Ammonshörner geschwungenen Hörner, – eindrucksvolle Kopfzierde eines jeden Mufflonwidders – im Blickfeld. Minutenlang verharrt der Widder bewegungslos in seiner Stellung, den Blick auf mich gerichtet. Vorsichtig, ohne die Distanz zwischen uns zu verkürzen, bewege ich mich weiter, und schon habe ich vier weitere Widder mein Visier. Sie werden begleitet von fünf Schafen und Jungtieren. Das Winterfell hängt noch in Resten, inselartig verteilten Fetzen, von den Tieren herab. So wirken die Mufflons „abgerissen“. Bei meinem Näherkommen stoßen sie einen rauhen Ruf aus, vergleichbar einem krächzenden Husten; und schon tauchen sie mit „empörten“, ruckhaften Bewegungen in das Dickicht ab. Es gibt hier Wachholderbüsche jeder Größe und Gestalt: spitz zulaufend wie Zypressen, turmartig oder breit-abgeflacht und schirmförmig über den Boden gestreckt. Auffälligster Vogel ist hier der so selten gewordene Rotrückenwürger, auch als Neuntöter bekannt. Brandgänse streichen herüber vom Bodden, ebenso eine Rohrweihe. Warm liegt mir die Sonne auf dem Gesicht. Fern ruft ein Kuckuck, im offenen Feld bleiben Lerchentriller ständiger akustischer Hintergrund. Zwischen den erhöhten Schaaren ziehen sich grau- bis ockerfarben gebleichte Reetflächen mit vorjährigem Röhricht. Senken mit klaren Wasserstellen, in denen Wollgras – auch Federgras genannt – kleine Horste bildet. Der Kontrast zwischen dem dunklen Grün von Kiefern und Wachholder gegen den Himmel erscheint mit scharfen Konturen gezeichnet und gibt dieser Landschaft ihr besonderes, malerisches Gepräge. Kein Muffelwild mehr in Sicht…