Soziale Ordnung und Rechtsprechung der Wayúu
Die soziale, matriarchal bestimmte Ordnung der in rancherías über viele Generationen zusammenlebenden Wayúu basiert auf Verwandtschafts- und Territorial-Systemen. Die Anforderungen der Natur an das Fortbestehen der Wayúu-Gruppen haben – ebenso wie das ursprünglich bestehende Beziehungssystem zwischen den Clans der Jäger-Sammler und den Gartenbau-Clans, die auf der Halbinsel vor dem Übergang zur Weidewirtschaft existierten – die Formen der sozialen Kontrolle und Regulierung geprägt: Kompensation einerseits und Rache andererseits dienen alternierend als Instrumente für Konfliktlösungen. Folgende Hauptprinzien bestimmen die Wayúu-Justiz: Jede Person, die einen körperlichen oder materiellen Schaden erlitten hat, ist ein Opfer („asiru“). Der durch ein Problem („purchi“),enstandene Schaden wird – den Umständen entsprechend – mittels einer Kompensation („mauna“) gelöst. Die Kompensation, die aus Vieh, Schmuck und in neuerer Zeit auch aus Geld bestehen kann, wird durch das Geschlecht bzw. das Familiensystem des Schuldigen aufgebracht und der Familie des Opfers ausgehändigt. Bei der Diskussion der Konfliktregulierung wird ein direkter Kontakt zwischen Agressor und Opfer vermieden. Wenn es sich um einen internen Konflikt der „Mutterlinie“ (matrilinaje) handelt, werden sie vielmehr jeweils durch ein Mitglied der „Kernfamilie“ vertreten; im allgemeinen durch den Onkel mütterlicherseits („alaula“); oder bei dessen Fehlen durch einen Bruder oder Cousin. Bricht der Konflikt jedoch zwischen zwei Personenverschiedener „Stammlinien“aus, so treten Vermittler anderer, als neutral geltender Clans in den Regulierungsprozess ein: sie pendeln zwischen den beiden Parteien, die sich sorgfältig voneinander entfernt halten und sich aus dem Weg gehen, solange noch keine Konfliktlösung erreicht wurde. In der Wayúu-Tradition hebt sich die Figur des Alaula in ihrer Bedeutung heraus: der Alaula bildet das Rückgrat und die Autorität im Sozialleben der Großfamilie. Nach außen hin tritt er als Repräsentant und Sprecher der Familie auf. Als militärischer Chef übernimmt er die Verteidigung der jeweiligen „Mutterlinie“ und dient als Vermittler in den Konflikten seiner Leute oder denen anderer Clans, die ihn auf Grund seines Prestiges oder seiner Autorität berufen. In seiner Funktion als Putchipü (Wortführer) besitzt er das überkommene Wissen um die Wortführung und ist für die Erziehung eines Nachfolgers verantwortlich. Seine Tätigkeit wird durch die beteiligten Parteien in Naturalien oder durch bestimmte Leistungen beglichen. Die Neutralität und Effektivität der Vermittlung im Sinne des althergebrachten Wissens – als echte, objektive Regulierungsnorm – nennt man „die wayúu-Art“, „sükuaitpa wayúu“. Bei erfolgloser Vermittlung, in der keine Kompensation erfolgt, kann es bis zum Krieg kommen. Der Einfluss dieses Regulierungssystems ist so groß, dass bis zum heutigen Tag viele der Prinzipien auch in den interethnischen Beziehungen mit den Repräsentanten der Nationalen Gesellschaft zur Anwendung kommen.Letztlich kommt es in dem Gebiet der Guajira durch kirchliche, politische und wirtschaftliche Einflüsse des Berufslebens häufig zu einem „juristischen Pluralismus“. Dennoch bewahren die „palabreros“ auf dem Boden des überkommenen Territoriums, wo es weder Polizisten, noch Richter oder Militär gibt, die Rechtsart der Wayúu.