19.05.97: Der Tag beginnt sonnig, mit dem Frühstück vor 8 h, wie üblich in der kleinen Gäste-Wohnküche mit Radio und TV. Dann wieder der Strandweg nach Kloster. Friedhöfe ziehen mich magisch an: Nicht, dass ich mich danach sehne, schon in naher Zukunft dort untergebracht zu sein, ganz im Gegenteil. Und doch, wo immer ich hinkomme, lasse ich mir keine Gelegenheit entgehen, durch einen Friedhofsbesuch die Gebräuche, die Denkweise der dort ansässigen Menschen, ihre Einstellung zum Tod und ihre bildlichen Ausdrucksformen kennenzulernen. Noch gut in Erinnerung ist mir ein Besuch der Familiengrabstätte eines an der BASF-Versuchssstation in Pingtung, Taiwan, tätigen Mitarbeiters. Der auf einem Hügel weiträumig angelegte Friedhof trägt keinen Bewuchs. Jedes Familiengrab besteht aus einem massiven Betonschrein, der oberseits einen konvex – einer Halbröhre gleich – geformten Abschluß hat. Auf einer an der Vorderseite befindlichen Stellfläche werden Räucherstäbchen aufgestellt. Daneben werden – durch kleine Steine davor geschützt, vom Wind fortgetragen zu werden – kleine Bündel Papiergeld abgelegt; praktisch gesehen sind es wertlose Geldscheine, quasi „Spielgeld“, das dem Toten als Reisekasse für den Übergang in ein kommendes Leben dienen soll.
Doch zurück nach Hiddensee, auf den alten Friedhof neben der Kirche in Kloster: Die Grabstätte Gerhart Hauptmanns ist nicht sehenswert. Einige mittelalterliche Grabsteine mit verwitterten, kaum lesbaren lateinischen Inschriften mögen Mönchen, den früheren Bewohnern des heute nicht mehr existierenden Klosters gewidmet sein, nach dem der Ort benannt wurde. Nachdem der Bischof von Roskilde, zu dessen Sprengel Rügen einschließlich Hiddensee gehörte, die Genehmigung zum Klosterbau erteilt hatte, ließen sich anno 1296 einige Mönche des Zisterzienser-Ordens hier nieder. Das Kloster wurde zunächst in Eigenwirtschaft gehalten, später ging es in Verpachtung über. Das Ende des Klosters auf Hiddensee kam mit der Säkularisierung, die 1534 mit der offiziellen Einführung der Reformation in Pommern durch den Landtag von Treptow auf Rügen ihren Lauf nahm. Der 30-jährige Krieg brachte die Zerstörung des Klosters, in dessen Nachfolge der Bau des Hofes Kloster schließlich zur Entstehung des Ortes Kloster überleitete.
Nahe der „Kernzone Nationalpark“ am Neubessin finde ich eine nicht alltägliche Pflanze: die Echte Hundszunge (Cynoglossum officinale). Zu den typischen Hiddensee-Pflanzen gehören weiterhin: Gemeine Grasnelke (Armeria maritima), Dunkles Lungenkraut (Pulmonaria obscura), Weiße Nachtnelke (Silene alba), Milchstern (Ornithogalum sp.), Ackerhornkraut (Cerastium arvense), Knöllchen-Steinbrech (Saxifraga granulata), Gebräuchliche Ochsenzunge (Anchusa officinalis), Waldvergissmeinicht (Myosotis sylvatica), 2-blättriger Blaustern (Scilla bifolia), Geruchlose Strandkamille (Tripleurospermum inodorum), Gemeines Lauchkraut (Alliaria petiolata), Kleiner Storchschnabel (Geranium pusillum), Wald-Akelei (Aquilagia vulgaris), Großer Klappertopf (Rhinanthus serotinus) und Acker-Krummhals (Lycopsis arvensis).
Mittags gönne ich mir Bratheringe im Restaurant „Am Leuchtturm“; danach Besuch im Atelier von Willi Berger, von dessen im klassischen Stil gemalten Ölbildern mich nur wenige kleinformarige Stilleben ansprechen. Die überwiegend hellen, leichten Farben sind im klassischen Stil fein und dünn aufgetragen. Mir gefällt ein schönes, freundlich wirkendes ‚Stilleben mit Zitronen’. Ein zweites Bild, „Stilleben mit Zitrone und zwei Heringen“ gefällt mir noch besser. Herr Berger nannte es allerdings „zur Zeit unverkäuflich“. Abgesehen von harmonischer Bildaufteilung und sauberer Öltechnik ist das Bild nach seiner Darstellung eng mit der Geschichte Klosters verknüpft: es sei auf eine kleine Holztafel gemalt, deren Holz aus dem Gebäude der Vogelwarte stammt, und zwar von einem Bett, in dem nicht nur Gerhard Hauptmann, sondern auch Albert Einstein genächtigt haben soll. In jenen Zeiten diente die inzwischen 2009 außer Dienst gestellte Vogelwarte auch der Unterbringung besonderer Gäste. Noch heute erinnert an der Außenwand der verlassenen Vogelwarte eine Gedenktafel an den illustren Besucher. Am Nachmittag besuche ich den pensionierten Hiddenseer Ornithologen R. Schmidt – vormals Leiter der Vogelwarte – in seinem Heim am Rand des „Berglandes“. Vergleicht man das Wissen dieses Mannes mit dem vieler heutiger, selbsternannter „Experten“, dann klafft da eine große Lücke zwischen fundiertem Wissen hier und kurzgreifender Anmaßung der jungen „Alleswisser“ dort. Von ihm erfuhr ich, dass der Erstnachweis des Karmingimpels auf Hiddensee – nach gesicherten Vorkommen auf Usedom und wohl auch im Fischland/Darss – um 1970 datiert. Es gab ein langes, interessantes Gespräch, das mit der Einladung zu einem Folgebesuch endete.