31.05.05: Ein früher Blick aus meinem Fenster erfreut mich: am Himmel viel Blau; die Sonne taucht die ringsum gelb blühenden Ginsterbüsche, die Weißdornsträucher und den blass violetten Flieder in leuchtende Farben. Die Düfte von Ginster- und Fliederblüten verleihen der welligen Dornbuschlandschaft zu dieser Jahreszeit einen besonderen Reiz. Kurz vor 8 h, als ich auf dem Sandweg vor dem Haus eine erste Prise Ostseeluft schnuppere, rauscht es unvermittelt über mir: etwa 40 Höckerschwäne ziehen in geringer Höhe ihre Flugbahn in Richtung Ostsee: der kraftvolle Flug, die riesigen, im frühen Licht leuchtend weißen Schwingen vermitteln mir ein wohltuendes Gefühl der Weite und des Zaubers dieser Landschaft. Schon kurz nach 8 h beim Frühstück – reich ausgestattet mit Müslis, Obstkaltschale, Quark, Schinken, verschiedenen Käse- und Wurstsorten sowie mit Honig und hausgemachten Marmeladen aus Sanddorn, Holunder und Rhabarber – schwindet die Sonne: dunkelgraue Wolkenmatten hängen schwer über dem Horizont. Im Unterschied zum Vortag bläst jedoch ein kräftiger Wind und lässt auf hellere Zonen hoffen. Eine aus meiner Sicht junge, ca. 40 Jahre alte Dresdnerin, setzt sich zu mir an den Tisch, mit einem Buch „Königliche Krankheiten“. Bei diesem Titel denke ich nicht nur an die in manchen königlichen Familien vererbte Bluterkrankheit, sondern auch an die einst von Europa aus über alle Erdteile verschleppte Geißel der Geschlechtskrankheiten, die sich im Gefolge der freizügigen höfischen Sitten des Mittelalters rasch verbreitete. Sehr offen, und in keiner Weise mit den in Mitteldeutschland noch vielfach anzutreffenden, verbohrten und nostalgisch geprägten DDR-Vorstellungen behaftet, äußert sie sich realistisch über unsere heutige politische und wirtschaftliche Situation, die ja im Sommer 2005 in eine kritische Phase geraten ist: niemand weiß, welche Folgen sich aus den angestrebten Neuwahlen ergeben. Immerhin lassen aktuelle Wahlprognosen für die WASG in den neuen Bundesländern einen Stimmenanteil von 30% erwarten. Ein solches Ergebnis ließe dieses fragwürdige Bündnis zur zweitgrößten politischen Kraft in Deutschland werden. Gegen 9 h setzt einmal wieder Regen ein, und mir bleibt im Augenblick nur die Hoffnung, dass der Wind wenigstens zeitweise die Sonne aus den Wolkenbänken hervorholt und mir einen halbwegs trockenen Gang über den Höhenweg verschafft. Irgendwann ist es soweit, und ich folge dem zumeist am Kliffrand entlang führenden Höhenweg bis zur steilen Holztreppe, die über 267 Stufen die Verbindung herstellt zwischen dem steinigen Ostseeufer und dem auf der Höhe unweit des Leuchtturms gelegenen Ausflugslokal, dem „Klausner“. Doch bevor ich zum Strand hinabsteige, erkunde ich die Höhen in der Umgebung des Leuchtturms. Heute ist mir die Ersteigung des Leuchtturms nicht möglich: die Plattform darf wegen des herrschenden Sturms (Windstärke 8, in Böen 9) aus Sicherheitsgründen nicht betreten werden. An Vögeln begegne ich im Gebiet des Leuchtturms der Klappergrasmücke (Enddorn), der Goldammer und einem kleineren Falken, den ich am Kliffrand nur kurz aus größerer Entfernung ausmachen und daher nicht sicher bestimmen kann; wahrscheinlich ein Turmfalke; um diese Jahreszeit wird hier jedoch gelegentlich auch der Rotfußfalke gesichtet. Der Falke bleibt zu meiner Überraschung und Enttäuschung der einzige Greifvogel, den ich bisher auf Hiddensee zu Gesicht bekomme.. Im hügeligen Gebiet in der weiteren Umgebung des Leuchtturms höre ich einen mir unbekannten, auffälligen Vogelruf, dessen Verursacher ich leider nicht zu Gesicht bekomme. Er klingt wie wídi – wídi – wídi – widi.., und wurde von mir auch am 01.06. wieder notiert. Zwischen dem Leuchtturm und dem Enddorn liegt – abgelegen und versteckt in einem kleinen Tal – das ehemalige Leuchtturmwärterhaus, das heute als Urlaubsheim für Mitarbeiter des Wasser- und Schifffahrtamtes genutzt wird. Für mich heißt es:zurück zur Holztreppe am Kliffrand, und hinunter zum Klifffuß. Heute will ich die Nordspitze von Hiddensee umrunden, auch wenn dies trockenen Fußes nicht möglich sein wird, da das Wasser streckenweise bis an den Fuß des Kliffs heranflutet. Der mit Steinen der unterschiedlichsten Kaliber – vom kleinen Kiesel bis zu meterhohen Granit- und Gneisblöcken – bestückte Strandstreifen verliert in Richtung Nordspitze zusehends an Breite, und bald spülen die Wellen bis an den Fuß der Steilwand aus Sand, Mergel, Granit-, Gneis- und Flintsteinen. An einigen Stellen steigt sie bis zu etwa 60 m Höhe auf. Dort, wo das Meer unmittelbar an den Steilabfall heranreicht, sieht man Spuren der letzten Stürme: gewaltige Sand- und Mergelmassen – teilweise mit dem darauf wurzelnden Buschwerk und kleinen Bäumen – sind herabgestürzt und haben den Kliffrand weiter zurückverlegt. 1-2 m pro Jahr frisst sich die Ostsee hinein in den Moränenkern von Hiddensee. Bisweilen sieht man an den von der oberen Kante abgebrochenen Partien die Reste der von den Uferschwalben gegrabenen Niströhren. Wie erwartet, komme ich nicht trockenen Fußes davon, denn das Wasser bespült das Geröll bis unmittelbar an die Steilwand. Doch dieser Abschnitt liegt bald hinter mir, und ich gelange zum Enddorn, dem Ende des Kliffs, wo trotz Sprengungen immer noch Stahlbetonbrocken davon Zeugnis geben, dass hier einst auf einem Betonsockel eine Flakstellung mit kleinem Bunker für die Luftabwehr im Zweiten Weltkrieg eingerichtet war. Dort, wo das Kliff nach Süden zu in einen flachen Sandstrand übergeht, beginnt der Zugang zum Alten und zum Neuen Bessin. Doch ich wandere ich zunächst an der Griebener Bucht entlang und wende mich in Richtung „Kleiner Inselblick“, wo bei meinem Eintreffen gerade die Aalsuppe binnen weniger Minuten fertig zum Servieren ist. Mit Kartoffeln und Gemüse fast wie ein Eintopf zubereitet, ist die Suppe reichlich mit dicken Aalstücken angereichert: seit langem die schmackhafteste Fischsuppe, die den Weg auf meinen Teller fand.
01.06.05: Morgens sieht es – wieder – stark nach Regen aus, doch das Wetter scheint sich für heute im trockenen Bereich anzusiedeln. Allerdings würde man ohne Ansage nicht darauf kommen, dass heute der Tag des Sommeranfangs sein soll: Es bläst ein kräftiger Wind der Stärke 5, und es ist 11° kalt! So bietet der Tag in Wald und Flur wenig Bemerkenswertes. Zu meiner Freude bestätigt sich meine erste Beobachtung, dass am Crügerhof, der in schöner Lage erhöht am Rande von Kloster liegt, ein Gelbspötter sein Revier bezogen hat, dessen Revier-Zentrum ein alter Laubbaum mit einer mächtigen Krone bildet. Immer wieder lässt er aus dem oberen Kronenbereich sein vielfältiges, mit Imitationen anderer Vogelstimmen durchsetztes Gesangsrepertoire hören, in dem ein Strophenteil wie uíttie – uíttie… sich wiederholt. Der „Crüger-Hof“, das große, mit Reet gedeckte Wohnhaus, das einst voller Zuversicht von einem Paul Crüger errichtet wurde, ist seit langem dem Verfall preisgegeben. Einheimische berichten mir, dass nach dem Krebstod des Erbauers ein unehelicher Sohn in Erscheinung getreten ist und seine Erbansprüche auf den Besitz geltend gemacht hat. Einige Jahre später verkauften die Erben das Haus, und ein Investor stattete das in prächtiger Höhenlage gelegene Anwesen mit einem neuen Reetdachaus, renovierte auch die Fassade. Die mittellose ehemalige Lebensgefährtin des Paul Crüger bewohnte zum Zeitpunkt meines Aufenthaltes auf Hiddensee noch – wie es hieß, unter drohender Räumungsklage – ein Zimmer unter dem Dach des Crügerhofes. An der Haustür hat sie Kopien von zwei beglaubigten Schreiben angebracht, die ihr Wohnrecht in Rechtsfolge des Erbauers wohl dokumentieren sollten. Doch wie sich bald zeigen sollte, hatte sie keine Chance, ihr Recht geltend zu machen, und endete, nachdem sie längere Zeit noch – abgezehrt und verhärmt – per Fahrrad Zeitungen ausgetragen hatte, als Sozialfall. Unweit des Crügerhofes liegt mit dem weithin sichtbaren Bau der Dietzenburg, die mit ihren kompakten roten Backsteinmauern und ihrer erhöhten Lage an eine Burganlage erinnert; ein weiterer großer Grundbesitz, der verlassen auf der Höhe liegt, und mehr und mehr zu einer Ruine wird, deren Restauration wohl keinen Sinn macht. Viele Jahre hielt die Künstlerfamilie von Paul und Oskar Kruse, dem Vater der Puppenschöpferin Käthe Kruse, hier Hof, und machte die Dietzenburg zum Zentrum des kulturellen Lebens von Hiddensee. Zwar hat es schon Versuche gegeben, den mächtigen Bau zu einem erneuerten Künstlerzentrum umzugestalten, doch der Finanzbedarf für eine umfassende Sanierung ist im siebenstelligen Bereich zu bemessen. Auch der Umfang der damit verbundenen Baumaßnahmen ist umstritten, so dass alle bisherigen Pläne, der Dietzenburg eine neue Bestimmung zu geben, bisher gescheitert sind. Auch hier dürften – wie in ungezählten anderen Fällen – Erbstreitigkeiten zur jahrelangen Blockierung einer wünschenswerten Neugestaltung wertvoller Bausubstanz beigetragen haben. Doch auch die Dietzenburg hat später einen Großinvestor vom Festland gefunden, wurde vollständig „entkernt“ und wird komplett neu ausgebaut.
Heute wird mir besonders bewusst, wie karg und dünn die Vogelwelt sich gegenwärtig auf der Insel darstellt: Keine Greifvögel, kaum Anatiden, Limikolen, Möwen und Seeschwalben, keine Schafstelzen… Ich bin gespannt, ob sich aus ornithologischer Sicht noch eine Wende ergibt. Am Nachmittag, gegen 15 h, lasse ich mir in Kloster im „Kiosk“ Grüne Heringe schmecken. Doch Höhepunkt des Tages ist am Abend in der Inselkirche zweifellos der Dia-Vortrag von Pfarrer Domrös über das Leben und Wirken von Ernst Barlach. Sehr geschickt verbindet der Pfarrer die Darstellung der künstlerischen Vielfalt von Barlach als Bildhauer, Zeichner und Schriftsteller mit Zitaten von Zeitzeugen und dem Abspielen dazu passender geistlicher Musik. In der kleinen, alten Bauern- und Fischerkirche zu Kloster ist der folgende Reim von Max Nikolaus Niemeier (1876 – 1934) zu lesen:
Hatt di de Welt
wat dohn -
un däh di weh -
un will di nich verstohn -
denn pack
dien Leed
un Krohm
un go nah
Hiddensee,
do warst du
licht un free!