Exkurs
Hermann, der mir während der Studienzeit in Kiel zuerst beim ersten Zoologischen Großpraktikum im alten Zoologischen Institut an der Hegewischstraße bewusst begegnete, hat mich später, beim näherem Kennenlernen immer wieder in vieler Hinsicht überrascht. Schon während der Studien- und Doktorandenzeit in Kiel, wo Hermann sein Domizil in einer Laubenkolonie in Nähe der Christian-Albrecht-Universität und des benachbarten„Nordmark Sportfeldes“ genommen hatte, fand Hermann seine dauerhafte Liebe : Heidi, ihres Zeichen Fotografin, die bereit war, mit ihm alle finanziellen Unbilden zu teilen. Hermann und mich brachten zwei gemeinsam als „Austauschstudenten“ an der Universität Graz in der Steiermark erlebte Semester im Großen Zoologischen Praktikum näher zusammen. Diese gemeinsame Zeit verschaffte uns beiden nicht nur viele auf- und anregende Erlebnisse, sondern auch die erwünschte Studiengebührenfreiheit. Sie ließ die Freundschaft zu Hermann – trotz teilweise unterschiedlicher Freizeitgestaltung – enger werden. So waren wir beide als Statisten tätig, z.B. in Bert Brecht’s „Dreigroschenoper“. Die „Gage“ bewegte sich damals in einer Größenordnung, die kaum über das Zahlen der Pausengetränke hinausreichte. Durch eine Liaison mit Gudrun, einer Ballettelevin, war ich zusätzlich der Grazer Oper verbunden. Wenn ich mit ihr durch Graz flanierte, zogen wir stets die Ausmerksamkeit der Passanten auf uns. Grund dafür waren aber nicht eigentlich wir, sondern die Tatsache, dass Gudrun einen zahmen Fuchs an der Leine zu führen pflegte. Einen Freundeskreis, zu dem Hermann keinen Zugang hatte, fand ich durch meinen Tischtennis-Sport, den ich als Mitglied der Grazer Universitätsmannschaft ausübte. Beide waren wir durchweg finanziell „klamm“. Denn Hermann bekam keinerlei Zuschüsse von seinen Eltern, und mein monatliches Zubrot war aufgrund der angespannten Situation der väterlichen Anwaltspraxis, und bei zwei studierenden älteren Brüdern nicht gerade üppig. So hangelten wir uns Monat zu Monat. Doch gelang es uns, die nicht selten sich einstellenden finanziellen Engpässe durch mancherlei Findigkeit gemeinsam zu überbrücken; die von meiner Mutter aus Deutschland bisweilen eintreffenden „Care-Pakete“ mit Holsteiner Wurst und anderen Leckerbissen wurden meist „brüderlich“ geteilt. Eines Tages stieß ich am „Schwarzen Brett“ der Uni Graz auf die Suchanzeige einer betrogenen Ehefrau, die einen Studenten zur Überwachung ihres Ehemannes suchte, nachdem ein Profi-Detektiv ihr offenbar zu teuer geworden war. Diese Tätigkeit als „Privatdetektiv“ erwies sich als ein ungewöhnlicher, durch Spesen etwas angereicherter Job. Bald aber stellte sich heraus, dass angesichts der Büro- und Wohn-Situation sowie der listenreichen Täuschungsmanöver des Fremdgängers ein „Zweitüberwacher“ unerlässlich war. Für diese Aufgabe konnte ich Hermann gewinnen. So konnten wir beide mit dieser ungewohnten Rolle eines Privatdetektivs unser Budget ein wenig auffrischen. Je näher ich allerdings die hysterische Auftraggeberin bei den heimlichen Treffs kennenlernte, desto mehr Verständnis keimte bei mir für den von uns „verfolgten“ Ehemann. Schließlich waren wir froh, als uns dieser Auftrag mangels Erfolg entzogen wurde.
Bei den Studentenfeten in kleinerem Kreis legte Hermann – normalerweise eher zurückhaltend und ruhig – nach einigen Gläsern Wodka oder anderen mit Alkohol angereicherten Getränken ein ungewohntes, fast „wildes“ Temperament an den Tag. Dann konnten wir erleben, wie er aufsprang und – meist barfüßig - in rasenden, rhythmischen Sprüngen einen russischen Kasatschok-Tanz auf den Holzboden legte. Nie werde ich die Szene vergessen, wie er bei einem solchen Tanz urplötzlich, wie vom Blitz getroffen, ohnmächtig auf den Boden sank. Ein dicker Holzspan hat sich tief in einen Fuß gebohrt. Geschockt scharen wir uns im Kreis um ihn; versuchen mit Erfolg, ihn wieder zu beleben. Verständnislos schaut uns Hermann an, fragt, was denn los sei. Als wir ihm sein Missgeschick erklären, fällt er sogleich wieder in Ohnmacht. Auch bei anderen Gelegenheiten wird Hermann zum Pechvogel: In der „Tram“ – wie man in Österreich zur Straßenbahn sagt – gerät ihm ein Finger in die selbsttätig schließende Tür. Beim Aussteigen wird ihm so schlecht, dass es mir das Beste scheint, ihn für’s erste, an die nächste Hauswand gelehnt, hinzusetzen. Als er so – augenscheinlich erbarmenswert – am Boden sitzt, nähert sich eine junge Frau mit ihrem vielleicht sechs Jahre jungen Kind. Spontan hält der kleine Junge dem aus seiner Sicht Hunger leidenden Mann einen Apfel hin: „Hier, Onkel, ein Apfel für dich“. Die Szene mit dem kleinen „Samariter“ war echt anrührend. Ein unvergessenes Abenteuer überstanden wir auf einer ländlichen „Tanzdiele“ in der österreichischen Provinz: Ohne uns viel Gedanken über die möglichen Folgen zu machen, holten wir – die „Preissen“ – uns einige der hübschesten Mädchen zum Tanz. Es dauerte nicht lange, da schwante uns Böses. Wir bemerkten, dass die einheimischen Jungs mit finsteren Mienen die Köpfe zusammensteckten. Nicht lange, da rückten sie näher und kreisten uns ein. Einer von ihnen hob sich durch seine Größe und kräftige Statur aus ihre Schar heraus. Die Tatsache, dass ihm ein Auge fehlte - offenbar hatte er es bei einer früheren Rauferei eingebüßt – ließ ihn besonders bedrohlich und furchterreregend erscheinen. Ein Entkommen schien kaum möglich, denn den Ausgang hätten wir nicht erreicht. Als somit unsere Aussicht, unversehrt die Stätte unseres nur kurz währenden Vergnügens zu verlassen, auf ein Minimum gesunken war, hatte Hermann die rettende Idee: Er zögerte nicht, wandte sich dem „narbigen Riesen“ zu: Ist doch „kei Gaudi“ für dich, mit so „viele vun dere andre“ uns „zwoa z’ammezeschlage“. Warum nicht wir drei gegen den Rest? „des is a Idee, jo mei“ stimmte er zu und schloss sich uns an. Angesichts der neuen Lage löste sich der Kreis der Gegner rasch auf; einer nach dem anderen „verkrümelte sich“, so dass wir unbehelligt abziehen konnten. Uinvergessbare gemeinsame Erlebnisse waren auch mit zoologischen Exkursionen zu den Mur-Höhlenverbunden. Neben der Bestimmung und Markierung von Fledermäusen gab es stimungsvolle „Höhlenparties“ mit einem Lagerfeuer,einer Brotzeit, Wein und Gitarrenmusik. Bei einer dieser Parties um das Feuer gerieten die von meiner Wirtin ausgeliehenen Stiefel – ein Vermächtnis ihres Verstorbenen Ehemannes – zu nah an die Glut. Zu meiner Schande musste ich ihr die Schuhe mit verkohlten Sohlen zurückgeben. Noch größeren Schaden erlitten die – ebenfalls vom Ehegatten meiner Wirtin hinterlassenen – damals noch aus Holz gefertigten Skibretter. Die österreichischen Doktoranden hatten mich zu einem Ski-Wochenende in den Hohen Tauern mitgenommen. Alle waren geübte Skifahrer, während ich als „Flachländer“ aus Kiel noch nie auf auf Skiern gestanden hatte. Natürlich verleiteten sie mich, mit ihnen im Lift zu einer relativ schwierigen Piste aufzusteigen. Es kam, wie es kommen musste: Des Bogenfahrens nur unzureichend kundig, rauschte ich aus der Piste heraus geradewegs in einen Waldstreifen.Während ich – von einigen Prellungen abgesehen – unbeschadet blieb, waren von den Skiern nur nur einige Bruchteile übriggeblieben.
Auch 10-14tägige Praktika, die uns von Graz an den Lunzer See und auf die Istrische Halbinsel führten, brachten nicht nur eine Erweiterung der faunistischen Kenntnisse, sondern auch engere persönliche Kontakte der Doktorand(inn)en untereinander. An der Limnologischen Forschungsstelle am Lunzer See galt es, wirbellose Tiere aus dem Süßwasser-Habitat zu fangen und zu bestimmen.Weit attraktiver war jedoch ein meeresbiologisches Praktikum, das Prof. Reisinger in wissenschaftlicher Kooperation mit dem kleinen Institut der kleinen Hafenstadt Rovinj an der kroatischen Küste, der Halbinsel Istrien, durchführte. Während die übrigen Teilnehmer des Großpraktikums von Graz aus gemeinsam mit einem Autobus die Reise nach Rovinj antraten, hatte ich mich schon früher aufgemacht, um per Anhalter und zu Fuß durch das Tal der Neretva, Serbien und Bosnien (u.a. Doboj) bis zur kroatischen Küste zu gelangen. Jeder meiner Reisetage brachte neue, abenteuerliche Erlebnisse. Einige Teilstrecken legte ich per Anhalter zurück. Bei einer Militärkontrolle (das Trampen war im Tito-Jugoslawien verboten) an einer Gebirgsstraße musste der Lastwagenfahrer, der mich mitgenommen hatte, aussteigen und wurde einem Verhör unterzogen. Den Inhalt des folgenden, von wildem Gestikulieren begleiteten Wortwechsel zwischen dem Uniformierten und dem Fahrer konnte mangels hinreichender Kenntnisse des Serbokroatischen nur erahnen. Er verlief jedoch zunehmend friedlicher, und nachdem ein Geldbetrag den Besitzer gewechselt hatte, durften wir wieder einsteigen und die Fahrt fortsetzen. Als ich einen Tag vor Kursbeginn an der Straße in Richtung Küste wanderte, näherte sich ein Bus und: Überraschung! Es waren die Mitstudenten aus Graz. Auf Zuruf stoppte der Bus, und unter großem Hallo stieg ich ein, nach so vielen Tagen – fast ohne Geld – allein auf Wanderung, doch etwas verstört. Die tägliche Ausfahrt mit dem Forschungskutter, das zoologische Arbeiten mit bis dahin uns unbekannten Meeresschnecken und anderen Meerestieren, das gefahrvolle Tauchen durch einen von der Brandung ausgespülten Tunnel und die Bekanntschaft mit einer bildschönen jungen Slowenin – viele neue Erlebnisse warteten auf mich. Hermann zeigt viele überraschende Seiten: autodiaktisch geschult, brachte er es aufgrund seiner Musikalität zu großer Fertigkeit im Gitarrenspiel; anders als viele „Blender“, die lediglich in der Lage sind, ein paar einfache Akkorde anzuschlagen, spielt er die Einzeltöne der Melodie wie mit einer Konzertgitarre; einfühlsam stimmte er mit Vorliebe melancholisch klingende russische und südosteuropäische Volkslieder an. Bewundernswert war für mich – und ist es bis heute – stets sein erstaunliches Gedächtnis, sowohl bezüglich länger zurückliegender Begebenheiten, als auch zu Forschungsthemen und geschichtlichen Details. Außerdem verfügt er – darin ein „Vollblut-Naturforscher“ – über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe und Beharrlichkeit, die es ermöglichen, komplexe Verhaltensweisen bei Lebewesen bis zu Millimetergröße zu erkennen und zu beschreiben. Besonders in Erinnerung ist mir, wie Hermann dem Ablauf von Räuber-Beutetier-„Dramen“ bei winzigen Wattwürmern auf die Spur kam: im Sinne des Wortes, denn winzige Schleifspuren auf der Schlickfläche zeugen von den Verfolgungsjagden der Winzlinge, die sich in der reichhaltigen Wirbellosenfauna des Schlickwatts abspielen. So kann der Forscher nachvollziehen, wie ein als Beutetier ausgemachtes, winziges Würmchen in wildem Zickzack versucht, den ihn verfolgenden „Raubwurm“ abzuschütteln. Erst langwierige Beobachtungen und Modellversuche haben es ihm ermöglicht, die Spuren im Sand zu entschlüsseln. Neben dem zähen Verfolgen eines Forschungszieles besitzt er die Fähigkeit, biologische Strukturen auch zeichnerisch exakt zu erfassen.