19.08.03, 7.30 h: Frühstück in der Messe der ‚Burchana’. Es gibt dort auf der Steuerbordseite einen Tisch, der längs des Fensters und an der Querseite mit einer gepolsterten Sitzbank (von Bootsmann Dieter und Maike gelegentlich auch als Hock- oder Liegebank genutzt) versehen ist. Ein ähnlicher Tisch, an dem lediglich die quer gestellte Sitzbank fehlt, befindet sich auch an der Backbordseite der Messe. Während Käpt’n, Steuermann und Maschinist den ersteren, steuerbordseitigen Tisch vorrangig in Anspruch nehmen, versammelt sich die der Wattenforschung verschriebene Seegras-Kartierungs-Frau- bzw. Mann-Schaft (Maike, Katrin, Volker) nebst dem Projektleiter Hermann zu den Mahlzeiten vornehmlich am backbordseitigen Tisch. Nur gelegentlich, wenn einzelne Bestandteile der jeweils aufgetischten Speisen zwischen der Schiffsmannschaft und den Forschern zum Austausch kommen, wenn Tee oder sonstige flüssige – gegen Abend überwiegend mit Alkohol angereicherte – Nahrungskomponenten in den Vordergrund der Gemeinsamkeit rücken (Zitat Willem: „man soll in Alkohol investieren: wo sonst gibt es 40%“), wird die angestammte Tischordnung aufgeweicht. Käptn Willem Frerichs (Foto) beherrscht mit seinem urfriesischen, trockenen Humor und mit einer äußerst bildhaften, durch Gesten und Mimik glänzend unterstützten Darstellungsweise, eindeutig die Runde. Auf seinem Stammplatz – seitlich auf der Längsbank am Fenster – erscheint sein auch im fortgeschrittenen Alter noch volles Lockenhaar im Gegenlicht wie ein durchsichtiges Gespinst aus Silberdraht. Das ausdrucksvolle, in den Jahrzehnten der Seefahrt reichlich von Furchen durchzogenes Gesicht, ein breiter Mund mit geschwungenen Lippen, und das kräftig wirkende Profil kontrastieren mit der eher schmächtigen Gestalt. Besonders deutlich wird dies, wenn der Käpt’n mit hochgezogenen Knien auf seinem Steuersitz auf der Brücke hockt und konzentriert die Bewegungen der grünen Lichtpunkte auf dem Radarschirm verfolgt (Foto). Sein Sprachrepertoire, das er phasenweise – wohl aus Mitleid mit mir und der studentischen Hilfskraft, also den des friesischen Platts unkundigen „Ausländern“ – mit hochdeutschen Einschüben verschneidet, ist bemerkenswert. Gemerkt habe ich mir, dass Sauerampfer im Ostfriesischen Platt als „Rode Hinnerk“ bezeichnet wird, Linkshänder heißen „Süderpood“.
Heute erlebe ich die erste Ausfahrt mit der Burchana durch die „Kaiser-Balje“ zu der großflächigen Wattzone, die den Namen „Hoher Weg“ trägt. Zunächst nehmen wir Kurs nach Nord, dann in den seitlichen Arm der Kaiser-Balje zum Hohen Weg. Der Ausbau der Kaiser-Balje zu einer Binnenwasserstraße wurde jahrelang kontrovers diskutiert. Ungeachtet der Tatsache, dass das „Hohe Weg-Watt“ bereits unter Naturschutz gestellt war, wurde die Durchbaggerung der Wattwasserscheide zwischen Jade und Weser Ende der 1990er Jahre vorangetrieben. Da die trockenfallende Wasserscheide des „Hohe Weg Watts“ bis zu 2,3 m über Niedrigwasser liegt, erreicht sie – bei 3,5 m Tidenhub – nur 1,5 m Wassertiefe. Für eine tidenunabhängige Passage von GMS-Schiffen musste eine 7 km langer und bis zu 6 m tiefer Graben durch das geschützte Wattengebiet gezogen werden. Das bedeutete einen drastischen Eingriff in das ökologische Gefüge des Wattenmeeres. Gegen 9.30h, bei der Einfahrt durch den Prickenweg, sehen wir erstmals ca. 180 mausernde Eiderenten, 2 Kormorane und 3 Robben. Vor Ort werden wir ausgebootet und zu unserem heutigen Einsatzgebiet gefahren. Als Beiboot verfügt die Burchana über ein Mega-Schlauchboot (Foto), das mit einem starkem Außenbordmotor bestückt ist. Das Absetzen erfolgt zwar im flachen Wasser, aber in der Regel geht der Ausstieg nicht ohne nassen „Allerwertesten“ vonstatten. Jedes der beiden Zweier-Teams ist mit einem GPS-Gerät ausgestattet, das – jedenfalls solange die Batterien nicht ihren Geist aufgeben - jederzeit die Bestimmung der exakten Position und das genaue Einhalten eines N-S- oder W-O- Transekts erlaubt. Darüber hinaus sind auf dem GPS-Gerät Laufgeschwindigkeit und die zurückgelegte Strecke – auf den Meter genau – abzulesen. Jeder Wattgänger ist mit einer im Notfall selbsttätig aufblasbaren Rettungsweste ausgestattet. Wir laufen mit 5.8 – 6.5 km/h in das endlos erscheinende Watt hinein, bis „unsere“ „Burchana“, die bei ablaufendem Wasser inzwischen trockengefallen ist, sich im fernen Dunst nur noch schemenhaft erkennen lässt und schließlich ganz aus unserer Sicht entschwindet. Wir nähern uns dem Zeitpunkt des Niedrigwassers; die Priele werden mit dem ablaufenden Wasser rasch passierbar und geben den Weg auf unserem eingeplanten Transekt frei. Außer bleigrauem Himmel, Watt und Wasser ist bald nichts zu sehen (Foto). Mir wird so richtig bewusst, wie hilflos man sein kann, wenn die Flut einsetzt, reißende Wasserstrudel die Priele füllen und dem Wanderer den Weg landwärts abschneiden. Während das auflaufende Wasser auf den ebenen Flächen „nur“ mit etwa 1.6-1.8 m/s seinen Weg nimmt, kann die Fließgeschwindigkeit des Wassers in den Prielen auf 6-8 m/s ansteigen. Da einige Priele mehr als 6-8 Meter breit sind, ist an ein Passieren dann kaum noch zu denken. Im Watt finden wir viele kleine Teilflächen, die mit Euglena sp. besiedelt sind, einer grüngefärbten, bodenlebenden, nur unter bestimmten Temperatur- und Lichtbedingungen an die Wattoberfläche steigenden Euglenoide; einzellige Flagellaten, die als Neophyten vor nicht allzu langer Zeit in die Nordsee eingewandert sind. Daneben finden sich oliv-braune Verfärbungen des Wattbodens, die von Diatomeen-Kolonien gebildet werden. Meeräschen suchen die teilweise dicht wachsenden Rasen der Diatomeen auf und hinterlassen typische Fraßspuren auf dem Wattboden. Unregelmäßig verteilt sind in den Restwasserflächen länglich-oval bis rundlich geformte Vertiefungen zu erkennen, sog. Tretmulden, die von Brandgänsen bei der Nahrungsaufnahme hinterlassen werden (Foto). An anderen Stellen zeugen rundlich geformte, aus kleinen weißen Herzmuschel-Bruchstücken bestehende Anhäufungen mit einem Durchmesser von 10-15 cm, von frischen Fraßplätzen der Eiderente (Foto). Bisher sind die Zahlen an Brandenten, Eiderenten, Limikolen und Möwen weit geringer als erwartet. Offensichtlich hat der Zug der nordischen Limikolen noch nicht richtig begonnen. Wind frischt auf, und gegen 12.30 h beginnt ein stärker werdender Regen, der allerdings – wie erfreulicherweise meistens im Gebiet der ostfriesischen Inseln – nicht lange anhält. Zurückgekehrt an Bord der Burchana, genießen wir in der Messe kerniges Vollkornbrot und Käse, dazu friesischen Tee mit Milch und Klüntjes. 14.30 h haben wir wieder Wasser unter der Burchana und nehmen Kurs auf unsere Liegestelle an der Nassau-Brücke in Wilhelmshaven, wo wir über Nacht bleiben.