Das Schicksal der Wayúu im vergangenen Jahrzehnt
Am 11.07.2004 berichtet der freie Reporter Gaélle Sévenier über eine Serie von Massakern in der nordöstlichsten Region Kolumbiens, der Guajira. Auslöser für diese Morde an ethnischen Minoritäten war der Drogenmachtkampf zwischen der Guerilla-Organisation FARC (Bewaffnete Revolutionäre Kraft Kolumbiens) und den paramilitärischen Gruppen. Sowohl für die FARC, als auch für die Paramilitärs stellen Drogenherstellung und Drogenhandel – neben der „Entführungsindustrie“ – die Haupteinnahmequelle dar. Den Mord an mehr als 34 Bauern vom Tibu-Bezirk (Region Catatumbo) – nahe der Grenze zu Venezuela – , die am 15. Juni 2004 von einer bewaffneten Gruppe getötet wurden, schrieb die kolumbianische Regierung der FARC zu. Ihre Hände und Füße waren gefesselt mit den Stricken ihrer eigenen Hängematten. Den Berichten Überlebender zufolge wurden die Bauern – in der Mehrzahl Eingeborene – von der FARC beschuldigt, für die Paramilitärs Coca-Blätter gesammelt zu haben. Kurze Zeit vorher, am 18.April d.J. hatte sich bereits ein ähnlich ablaufendes Massaker an den Wayúu in der Guajira-Wüste ereignet. Eine von 700 über die nahe Grenze nach Venezuela geflüchteten Wayúu – berichtet, dass die Bewohner eines gesamten Dorfes ausgelöscht wurden. Dieser Massenmord wurden von den Paramilitärs der AUC (Autodefensiva Unión de Colombia), der „Selbstverteidigungs-Union Kolumbiens“, begangen, die über ca. 20.000 Mann verfügt und oft mit den Regierungstruppen kooperiert . Man schätzt, dass dieser Truppe etwa 3.500 Morde pro Jahr zuzuschreiben sind.
Einst lebte Maria P., eine 40-jährige Überlebende, mit ihren 6 Kindern in Bahia de Portée, einem kleinen Hafen in der Guajira; sie züchtete Ziegen, die für das Überleben in der Halbwüste am besten geeignet sind. Dann hatte vor drei Jahren José M.B., auch „Che Mabala“ genannt, den Drogenhandel in Bahia de Porté ausgebaut und verstärkt. Eine Drogenfabrik wurde errichtet, und in der Folgezeit landeten auf der kleinen Flugpiste viele Fremde, um Schmuggelware zu kaufen. Es blieb nicht aus, dass Beschwerden der Eingeborenen wegen der Gefährdung durch Schwefeldämpfe und andere in der Drogenproduktion verwendeten Chemikalien dem Mafioso „El Che Mabala“ zu Ohren kamen. Maria: „Eines Morgens kamen sie mit den Paramilitärs, um uns auszulöschen. Am 18.April, um 7 Uhr morgens, umzingelten etwa 200 bewaffnete Männer die 50 Hütten des Dorfes Bahia Portete; in der Wüste können wir Menschen von weitem ankommen sehen“ erklärt Maria. Sie nahm ihr jüngstes Kind auf den Arm und sagte den Übrigen, sie sollten rennen so schnell sie konnten, doch vielen fehlte die Zeit zu fliehen. Der 8 Jahre alte José Vicente konnte entkommen. Dass er die Paramilitärs als „wearing moustaches“ beschrieb, ist nicht verwunderlich, sind doch Schnurrbärte für die Eingeborenen etwas sehr Ungewöhnliches. Er sah sie Männer, Frauen und Kinder töten, sie enthaupten, in Stücke schneiden mit ihren Macheten wie rohes Fleisch; weiter berichtete er, dass Menschen lebend verbrannt wurden. Luis Angel, ein Fischer aus aus Bahía de Portete, verlor nicht nur sein Haus, sondern auch zwei Söhne, 5 und 7 Jahre alt, die lebend in seinem eigenen Lastwagen verbrannt wurden. Er schwor den Paramilitärs Rache, will den Tod seiner Angehörigen rächen. Die Mörder ließen nur einen alten Mann leben, nachdem sie ihm in die Hand geschossen und die andere in Stücke gehauen hatten. Nach dem Massaker wanderten Hunderte Wayúu tagelang durch die Wüste, ohne Nahrung und Wasser, bis vorbeikommende Lastwagen sie aufnahmen und über die Grenze nach Venezuela brachten. Die genaue Zahl der nach Venezuela gelangten Flüchtlinge – es dürften mehr als 700 gewesen sein – ist nicht bekannt, da viele sich aus Furcht nicht bei den Behörden melden. Erst 5 Tage später (!)erreichte das kolumbianische Militär den Ort und fand die Teile toter Körper über den ganzen Ort verteilt. Mehr als 80 wurden danach vermisst, wohl im Meer ertränkt oder verbrannt, sagen die Wayúu. Die Paramilitärs waren gewarnt und hatten sich rechtzeitig zurückgezogen („Che Mabala hat seine Kontakte…“). Maria: „Warum schnitten sie die Menschen in Stücke? Sie sind Schlächter…da wurde nichts zum Beerdigen gelassen“ ! Erst mehr als einen Monat später, am 22.05.04, wurde das „Wayúu Genocide“ dem UN-Forum für Eingeborenenfragen („Native Issues“) in New York gemeldet, die Massaker beschrieben. Die Übergriffe begannen schon in früheren Jahren: So überfallen im Morgengrauen des 8.Dezembers 1998 – Feiertag in Kolumbien – etwa 200 bewaffnete Uniformierte (vermutlich Paramilitärs der AUC = Autodefensas Unidas de Colombia) die Ortschaft Villanueva in der Guajira und ermorden 18 Menschen, darunter ein Kind, und verschleppen 4 Personen; diesem Vorfall war eine Waffenstillstandserklärung der Paramilitärs vorausgegangen. Die in solchen Fällen zuständigen politischen Gremien wie die CODHES = Consultoria para los Derechos Humanos, die OCHA = Oficina para la Coordinación de Asuntos Humanitarios oder die CORPOMAG = Corporación Autónoma Regional del Magdalena bleiben wirkungslos.
So viel scheint mir sicher: die Wayúu werden Rache nehmen, denn Blutrache gehört zu ihrer Kultur. Über lange Zeit haben sie ihre eigenen Gesetze in der Guajira – einer durch die Grenze zu Venezuela geteilten Region – eingeführt und bis heute beibehalten; eine Grenze, die für die Waúu nicht existiert – es war immer ihr Land! Folgender Vorfall ereignete sich während meines Aufenthalts in Riohacha im Mai 1976: ein aus 5 Mann bestehender kolumbianischer Militärposten hatte ein minderjähriges Wayúu-Mädchen misshandelt und vergewaltigt. Etwa 1 Woche danach fand man alle Soldaten des Postens mit durchgeschnittenen Kehlen in der Wüste…
Die in dem Gebiet der Sierra Nevada von Sant Marta und in der Guajira immer wieder durch die FARC, die AUC und die Drogen-Mafia verübten Morde, Drohungen und Einschüchterungen dienen nach wie vor dem Ziel, die Kontrolle über das Netzwerk der Guajira-Häfen für den Drogenhandel zu erlangen.
Im Mai 1976 bekomme ich bei einem 10-tägigen Aufenthalt in der Gebietshauptstadt Riohacha unbeabsichtigt eine Vorstellung davon, welch immanenten Einfluss die Mafia auf die Bewohner der Guajira ausübt, und wieviel Angst sie verbreitet. Bereits bei meinem ersten Rundgang durch die Stadt (2012: 125.000 Einw.) – mit einem Lebensgefühl zwischen Karibik und ‚Wildem Westen’ – werde ich von Bewohnern angesprochen. Sie raten mir, möglichst bald abzureisen, da ich hier stark gefährdet sei. Durch mein Äußeres (weißhäutig, groß und blond) als „Gringo“ eingestuft, und überdies ohne Familienbegleitung, gerate ich automatisch in den Verdacht, als verdeckter US-Drogenfahnder unterwegs zu sein. Zu allem Überfluss habe ich mich einquartiert in einem Hotel, das in Strandnähe im Osten von Riohacha – nahe der Calle 1 und der Mündung des Río Rancheria – schön gelegen ist, aber meinen Gefährdungsgrad noch erhöht. Das Hotel (ich glaube, es hieß ‚Gimaura’), weist, wie die meisten Bauten in der Karibik, eine sehr offene, die Luftzirkulation fördernde Bauweise auf. So werde ich für einige Momente ungewollt Ohrenzeuge eines lautstarken Treffens zwischen Vertretern der Mafia und Bürgermeistern der Region. In dem Moment kommt aufgeregt die junge Dame von der Rezeption auf mich zu: „Bitte gehen Sie sofort in Ihr Zimmer, sonst sind Sie ein toter Mann“. Zuvor hatte ich noch mitbekommen, dass einer der Bürgermeister, der offenbar nicht im Sinne der Mafia gehandelt hatte, mit Sanktionen bedroht wurde. In den kommenden Tagen mache ich am Strand die Bekanntschaft einer beeindruckenden Persönlichkeit. Melitón Mesa, ein kräftiger, gebräunter Mann mittleren, schwer zu schätzenden Alters zwischen Ende 40 und Mitte 50 (Foto). Melitón entstammt einer gut situierten Familie in Bogotá, hat aber der hektischen Hauptstadt Bogotá den Rücken gekehrt, und das Leben der städtischen Gesellschaft mit der naturnahen, einfachen Lebensweise der Guajiro-Fischer getauscht. In unmittelbarer Nachbarschaft seines strandnahen Ranchos verteilen sich sich die etwas kleineren, weniger komfortabel ausgestatteten Ranchos der Riohacha-Fischer. Melitón – mit kurzem, gelockten dunklem Haar und deutlichen Bauchansatz – habe ich nur halbnackt kennengelernt. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Guajira-Fischer – überwiegend des Lesens und Schreibens wenig kundig – zu betreuen und vor Ausbeutung zu schützen. Sobald die meist mit Außerbordmotor versehenen kleinen Fischerboote mit ihrem Fang anlanden, organisiert er den Verkauf der Fänge und die Verteilung der Erlöse. In seinem Rancho wie ein Freund aufgenommen und bewirtet, bekomme ich den Eindruck einer großen Familie, dessen Oberhaupt Melitón ist. Bei einem meiner Besuche treffe ich ihn aufgeregt und besorgt an: eines „seiner“ Boote ist nach der morgentlich Ausfahrt nicht zurückgekehrt . Er muss sich also auf die Suche begeben und fragt mich, ob ich ihn in seinem Boot begleiten möchte. Bald folgen wir – etwa 1-2 km vor de Strandl – der Küstenlinie in Richtung Osten (Cabo de la Vela); keine Spur von dem veremissten Boot. Nicht lange, da beginnt der Außerbordmotor zu stottern und verstummt mit einem letzten Röcheln. Melitón hat versäumt, den Tank aufzufüllen, und so dümpeln wir – nur mit zwei Rudern versehen – dahin. Melitón hat am Ufer, etwa auf unserer Höhe, einige Schuppen und Lastwagen erspäht, wo er sich Aushilfe mit einem kleinen Kanister Benzin erhofft. Da er befürchtet, dass es sich um ein Lager der Drogen-Mafia handelt, muss ich mich platt auf den Boden legen, als wir uns dem Strand nähern. Mit einem „Gringo“ gesehen zu werden, wäre für uns beide tödlich. Ich verfolge mit einem Auge, wie Melitón durch das hüfthohe Wasser zum Strand watet und sich den Baracken nähert. Mehr kann ich nicht sehen. Doch schon bald kehrt er hastig, verstört und bleich – soweit dies bei seiner tiefen Gesichtsbräune möglich ist – zum Boot zurück. Ohne Benzin, dafür aber mit einer massiven Drohung und der Aufforderung, unverzüglich das Weite zu suchen, haben sie ihn davongejagt. Erst spät kehren wir zu den Fischern nach Riohacha zurück – und das vermisste Boot ist längst angelandet.
Seit Jahrzehnten kämpfen die illegalen bewaffneten Gruppen um die Vormacht in diesem Geschäft. Handelsschiffe bringen Schmuggelware nach Bahía Portete und nehmen im Gegenzug für den Export bestimmte Drogen an Bord. Venezolanische wie auch kolumbianische Regierungen haben kaum auf die Vorfälle reagiert. Die kolumbianische Führung fürchtet ein verstärktes Wiederaufflammen des Bürgerkrieges um die Kontrolle der Kokain produzierenden Region des Landes. Seit 1982 besteht der in der „Bahía de media luna“ gelegene Miltärstützpunkt „Capitanía de Puerto Bolivar“; Puerto Bolivar fungierte als Exporthafen für die Kohle aus den Minen von „El Cerrejón“.