Lebensart und Kultur der Wayúu
Eine traditionelle Siedlung (caserío oder ranchería) der Wayúu, die nach einem Tier, einer Pflanze oder einer besonderen Lokalität benannt wird, besteht aus fünf bis sechs Hütten. Die rancherías sind in der Regel isoliert und entfernt voneinander, um die Kontrolle über die Ziegenherden zu behalten und ein Vermischen zu vermeiden. Das typische kleine Haus (piichi oder miichi) besteht aus zwei Räumen, in denen Hängematten als Schlafstätten und der Aufbewahrung persönlicher Gegenstände dienen. Während die Wände aus jotojoro bestehen, einer Mischung aus Lehm, Heu und trockenem Rohr, wird das Dach mit den getrockneten, verholzten Herzen des bis zu 6 m hohen Säulen- oder Kandelaber-Kaktus (Stenocereus griseus)abgedeckt. Die roten, 5 cm großen Früchte dieser in den Trockengebieten Arizonas und Mittelamerikas heimischen Kakteen sind bei den wayúu eine beliebte Speise. Der Kaktus dient nicht nur als Baumaterial und Nahrung, sondern wird auch als „lebender Zaun“ angepflanzt, um Weiden abzugrenzen.
Vertreter der jüngeren, verstädterten Wayúu-Generation in Manaure haben im Kampf um eine ethnische Rückorientierung auf alte Traditionen die Führerschaft übernommen. Einen wichtigen Beitrag zu dieser kulturellen Wiederbelebung lieferte Miguel Ángel Jusayú mit der Erarbeitung eines Wörterbuches Guajiro-Spanisch und Spanisch-Guajiro. Er und Gleichgesinnte stellten die mündlich überlieferten Mythen und Erzählungen aus der Guajira zusammen und formten damit die Basis für ein Schriftsystem des wayuunaiki, das traditionell keine Schriftsprache kannte. Darüberhinaus belebten sie auch die musikalischen Traditionen der Wayúu. Nicht nur die Ortsnamen wie Aremasáuahu oder Outu’usümana, sondern auch die Sprache insgesamt enthält auffallend häufig Aneinanderreihungen von Vokalen, so z.B. in Süpaapünaa. Soweit die Bewohner der Guajira noch nicht in größere Ortschaften oder Städte wie Manaure – meist unfreiwillig – umgesiedelt wurden, leben sie traditionell in Häusern aus Lehm und ‚paja’ (3), die zum Schutz vor Eindringlingen mit Distelgestrüpp oder stachelbewehrten Büschen eingezäunt sind. Unter den Wayúu ist es üblich, mehrere Frauen zu haben. Die vielfarbig leuchtenden, knöchellang und weit fallenden mantas der Wayúu-Frauen erfüllen die karge Trockenlandschaft der ‚trupicho’ (s. trupillo)-Bäume“, der Kakteen und der schmalen Pfade mit einer bunten Farbenwelt, die in der Symbolik der Wayúu verwurzelt ist. Zu den überlieferten Traditionen gehört das „Spiel des Zickleins“ („Kaulayawa), span. „juego de la cabrita“, als Dank für gute Ernten; ebenso der zeremonielle Tanz „Yonna“. Im Konflikt zwischen dem Verständnis des überkommenen „Territoriums“ und der traditionellen Wayúu-Ordnung einerseits, und der durch Individualisierung und Arbeitsspezialisierung geprägten städtischen Ordnung der „Nicht-Wayúus“ anderseits, kann es auch zu fruchtbaren Kompromissen kommen. Dies zeigte beispielhaft die mehrjährige Erfahrung eines interkulturellen Hospitals in dem Ort Nazaret im Gebiet der Alta Guajira: die Raumaufteilung des Hospitals passt sich der „ranchería (4) wayúu“ an, wo ein Patient im Verband seiner Familie bleibt. Hier überschneiden sich die traditionellen medizinischen Praktiken der Wayúu mit den westlichen Methoden ebenso wie der Tagesablauf der Wayúu-Familie (u.a. Essenszubereitung und sozialer Verbund) mit der modernen Klinik-Ordnung. Wechselseitig ergaben sich dabei konstruktive Effekte: Die traditionelle Wayúu -Therapie bekommt wieder ihren Wert und kann – soweit von Nutzen – die westliche Therapie ergänzen. Darüberhinaus verbessert sich durch solche Projekte das Beziehungsklima zwischen den Angehörigen beider
Kulturen.