Das Volk der Wayúu
Noch bis in die zweite Hälfte des 20.Jahrhundert, als Pater José Agustín Mackenzie Useche, der zehn Jahre bei den Wayúu lebte, sein außerhalb Kolumbiens kaum beachtetes Buch „Así es la Guajira“ schrieb, überdauerte das kleine Volk der Wayúu hinsichtlich seiner Kultur und Religion, seiner Gesetze und Lebensnormen in einem seit mehr als hundert Jahren nahezu unveränderten Zustand. Es verharrt eingeschlossen in seinem geografisch klar abgegrenzten Territorium, ohne Gesetze und Lebensnormen anzuerkennen, als die des eigenen Stammes. Die Abgelegenheit und die Dürre der Guajira sowie die heftige Gegenwehr der Wayúu führten dazu, dass die Spanier zunächst auf eine eingehende Erkundung verzichteten. Die Wayúu gehören daher zu den wenigen indigenen Volksstämmen Lateinamerikas, die niemals von der spanischen Conquista überrollt wurden.Von der europäischen Zivilisation übernahmen sie nur solche Bestandteile, die sie in ihrer Lebensführung nutzen konnten, zum Beispiel moderne Waffen, und so gelang es ihnen, bis in die Gegenwart hinein ihre Identität zu bewahren. Die Küste war reich an Perlen, die von den Wayúu gegen Vieh eingetauscht wurden. Bis in das 20.Jahrhundert hinein fiel es der staatlichen Verwaltung schwer, in dem ariden Gebiet mit der Trockenvegetation aus ‚trupillo’-Bäumen (1)‚ divi-divi’-Sträuchern (2) und Kakteen Fuß zu fassen. Die Wayúu sind mit ca. 150.000 Menschen (ca. 21%) die zahlreichste unter den drei größten indigenen Völkern in Kolumbien. Zweitstärkste Gruppe sind die Paéz mit ca.100.000 (17%) Angehörigen, die sich auf die Regionen „Tierra Dentro“, Nord-Cauca, die Dep. Huila, Tolima, Putumayo und Caquetá verteilen. Drittstärkste Gruppe bilden die Emberá im Chocó mit ca. 50.000 (10%) indigenen Bewohnern. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wayúu leben die „arhuacos“ im Südwesten der Sierra Nevada de Santa Marta, Die Wayúu reden – wohl nicht zu Unrecht – davon, dass die „alijunos“(„die Fremden“) darauf hinarbeiten, dass ihre Kultur verschwindet. Indigene Autoren wie José Ángel Fernández (alias Vito Apüshana), Francisco („Frasso“) Solórzano, José („Cheo“) González und Miguel Angel Insayú beschreiben das Volk der Wayúu mit treffender Bildhaftigkeit als „La Nación del Viento“, „die Nation des Windes“. Als der Sträfling „Papillon“ auf seiner Flucht von der Teufelsinsel hier strandete, glaubte er, das Paradies gefunden zu haben. Besonders war er – was jemanden, der wie ich selbst die Guajira und seine Bewohner ein wenig erleben durfte, nicht im geringsten verwundert – von der Anmut der Frauen hingerissen: Relativ großgewachsen, mit feinen Gesichtszügen, gekleidet in die lang wallenden, in allen Farben des Regenbogens leuchtende ‚mantas’, bilden sie einen prächtigen Kontrast zu der menschenfeindlichen, von Dürren gezeichneten Landschaft.