Donnerstag, 05.06.08: …Und es bleibt sonnig, und windig! Wenn Sabine Gessing ihre Wäsche auf der Leine am Fething aufhängt, klatscht ihr das nasse Zeug um die Ohren. An der Wäscheleine wirbeln die Kleiderstücke wie Derwische in ihren wild kreisenden Tänzen. Gestern sah ich einen Trupp von ca. 30 durchziehenden Pfuhlschnepfen und auch wieder kleine Gruppen Ringelgänse. Bisher noch keinen Greifvogel oder Graureiher gesichtet. Meine Hinterkopfschmerzen haben zum Glück nachgelassen. Traumhaftes Sommerwetter! Nachlassender Wind, und Morgen schon der vorerst letzte Tag auf Gröde: Sonnabend gegen 15’ kommt die „Rungholt“ von Schlüttsiel nach Gröde und bringt mich zur Hallig Oland.
Exkurs:
Zahlreiche Legenden ranken sich sich um die Stadt Rungholt, die in der zweiten Marcellus-Flut, der Groten Mandränke, am 16.Januar 1362 oder einer der folgenden Sturmfluten unterging. Man sprach vom Reichtum und der Größe der Stadt, schrieb ihren Untergang göttlicher Strafe für lasterhaftes Leben und die Verhöhnung der Kirche zu. In seiner opulenten Ballade „Trutz blanke Hans“ verewigte der Dichter Detlev von Liliencron die Legende um Rungholt:
Trutz, Blanke Hans
Heute bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnt,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnt
Trutz, Blanke Hans!
Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
liegen die friesischen Inseln im Frieden,
und zeugen weltenvernichtender Wut,
taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten,
Trutz , Blanke Hans!
Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
Ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen,
und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Trutz, Blanke Hans!
Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans!
Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr fasst selbst der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier alltäglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, Blanke Hans!
Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
„Wir trutzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich.“
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans!
Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen
der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
belächelt den protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
Trutz Blanke Hans!
Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich, wie Ruf eines Raubtiers in Banden,
das Scheusal wälzte sich, atmete tief
und schloss die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
Kommen wie rasende Rosse geflogen.
Trutz, Blanke Hans!
Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch. –
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans!
Die Realität von Rungholt sah anders aus: Immerhin mag Rungholt eine für das 13.Jahrhundert beachtliche Zahl von etwa 1.500-2.000 Einwohnern gehabt haben – ähnlich wie zu jener Zeit die Stadt Kiel! Es war ein bäuerlicher Handelshafen an einem gut schiffbaren Fluss, dessen Name „Rungholt“
(„Silva Rungholtica“) wohl auf das friesische „Rung“ (gering, falsch → engl. „wrong“) und das Stammwort „Holt“ (Gehölz) zurückzuführen ist. Der Untergrund von Rungholt bestand aus einer Torflinse, die der Überspülung nicht standhielt. Die Sturmflut formte den kleinen Fluss Hever zum tiefen , großen Wattenstrom, der heutigen Norderhever. Dieser 20 Meter tiefe Gezeitenstrom bildete sich erst durch die Burchardi-Flut (1634), die einen großen Teil der Insel Alt-Nordstrand im Meer versinken ließ. Die beiden benachbarten Siedlungen Grote Rungholt und Lütke Rungholt bildeten den Hauptort eines Verwaltungsbezirks, der Edomsharde; eine von 5 Harden der Landschaft Nordstrand. In der Nachbarschaft von Rungholt lag der ebenfalls in den Fluten versunkene Ort Niedam. Vom alten Nordstrand sind heute nur noch die Halbinsel Nordstrand, die Insel Pellworm und die Hallig Nordstrandischmoor erhalten.