18.05.97: Früh aufgestanden, 8h in der kleinen Pensionsküche gefrühstückt, 9h dem Strandweg folgend nach Kloster gepilgert. Schon kurz nach 9h ballt sich im Süden ein Gewitter, breitet sich rasch eine schwarzblaue Wand auf, erste Donnerschläge in der Ferne künden ein Unwetter an. 9.30h bin ich einer der Ersten in der kleinen alten Inselkirche: weißgetünchtes Tonnengewölbe, über und über mit Blumenmotiven geschmückt. Gelbe Blüten – vielleicht Sonnenblumen – inmitten von Grün, in einem runden Emblem. In der Mitte des Kirchenraumes schwebt unter der Decke ein lebensgroßer, weißgeflügelter Engel, aufgehängt in horizontaler Flugposition. Ein für die Raumgröße deutlich unterdimensionierter achtarmiger Messingleuchter – ähnlich dem im Wohnzimmer unserer früheren Wohnung am Lessingplatz 4 in Kiel – beherrscht den rückwärtigen Teil der Kirche; vielleicht die Spende eines für die Rettung aus einem Unwetter dankbaren Hiddenseer Fahrensmannes? Linker Hand vor dem Altarraum hängt das Modell eines Zeesenbootes. Boote dieses Typs verkehrten im Handel seit mehr als 100 Jahren auf dem Bodden zwischen dem Darss und der Insel Rügen. Als kommerziellen Seglertyp mit extrem geringem Tiefgang eignen sie sich besonders für den flachgründigen Bodden. Gegenüber schwebt als Gegenstück das Modell eines Wikingerschiffs. Nach und nach füllt sich das Kirchlein: einige Familien in Jogginganzügen – zweifellos Touristen-, in der Mehrzahl aber Hiddenseer Gemeindemitglieder. Links und rechts vorn auf den erhöhten Extrabänken nehmen je 5 Presbyter Platz. Bald ist die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Da setzt mit plötzlicher Gewalt das Glockengeläut ein. In dem Moment öffnet sich die schmucklos – vergleichbar einem Scheunentor – gestaltete Tür für Nachzügler. Während die „auf den letzten Drücker“ kommenden Gottesdienstbesucher eintreten, fällt mein Blick auf den Helfer, der mit kräftigem Armzug die beiden Glockenstränge abwechselnd links und rechts in Schwingung bringt: morgentliches Krafttraining zum Wohl der Gemeinde und zur Ehre Gottes. Der Pfarrer beginnt den Gottesdienst freundlich und locker, bezugnehmend auf das Grollen des Donners. Festlich erklingt der von der Gemeinde – wechselseitig von den Sitzreihen links und rechts des Mittelganges der Kirche – angestimmte Canon „Veni Creator, Veni Creator, Veni Creator Spiritus“. Beeindruckend das Glaubensbekenntnis „Lebendiger Glaube“ von Dietrich Bonhoeffer, ebenso das Gebet: „O Gott, wir träumen von einer Kirche, die immer neue Wege zu den Menschen sucht und erprobt mit schöpferischer Phantasie, die frohe Botschaft frisch und lebendig hält“… “Wir träumen von einer Kirche, die offen ist für das Anliegen Christi und darum für das Leben aller Christen engagiert eintritt“… „Wir träumen von einer Kirche,…..“ „Herr, erwecke Deine Kirche und fange bei mir an, Herr, baue Deine Gemeinde und fange bei mir an…“. Auch die Predigt überzeugt, inhaltsreich und realitätsnah. Sie eröffnet Hoffnung – verbunden mit Ernst – zum Pfingstfest.
Nach dem Gottesdienst hat starker Regen die Hauptstraße in Kloster in ein lehmzerfurchtes, matschiges und pfützendurchsetztes Geläuf verwandelt. Die Galerie „Ric M“ präsentiert eine Sonderausstellung mit 64 Gemälden der bedeutenden Hiddensee-Malerin Elisabeth Büchsel (1867-1957), mit Preisen von 3.000-12.000 DM. Auch nach einer Stunde der Betrachtung von Bildern, Hiddensee-Schmuck, Literatur, Keramik, Designer-Glas und anderen Galerieartikeln hat der Regen nicht nachgelassen. Vielmehr „klatscht“ es so stark vom Himmel, dass die zwei Kilometer Wegstrecke bis Vitte ausreichen werden, mich bis auf die Knochen zu durchnässen. Was also tun? Dann die Chance: Ein Kremser – der auf dem Darss und auf Hiddensee für Gesellschaftsfahrten ins Grüne gebräuchliche Planwagen – naht, und auf Nachfrage bietet mir der junge Kutscher den Platz neben sich auf dem Bock an; und ab geht es, eine von langjährigem Gebrauch zeugende grobe Wolldecke gegen die Unbilden von Wind und Regen über die Beine gezogen. Vor mir, im Geschirr, nehmen die beiden Haflinger ruhig, in abgestimmtem Schritt, den Weg zum Hafen von Vitte. Eine blonde und eine hellbraune Mähne flattern vor mir in Regen und Wind. Ich bin „gerettet“. Nur noch knapp 100 m im Regen, und ich sitze behaglich im gemütlich eingerichteten Restaurant „Hiddenseer“. Superfrische, zarte Kutterschollen – drei handgroße Babyschollen – mit Bratkartoffeln (21.50 DM), ein Schoppen Frankenwein (8.00 DM), ein Warsteiner Pils (3.50 DM). Und siehe da: keine 14 h, da hellt es sich auf. Wenig später – kaum zu glauben – scheint die Sonne. Die Ostsee streckt sich spiegelglatt unter einem wolkenlosen blauen Himmel – ja, einige Mutige baden sogar! Ich wandere auf der Strandseite in Richtung zum Harter Ort. Zwischen Hucke und Rennbaumhuk schwimmt dicht vor der aus Findlingen aufgetürmten Uferbefestigung ein Eisenten-Erpel im Prachtkleid: ein für unsere Breiten im Monat Mai höchst seltener Gastvogel aus dem äußersten Norden Europas! Zwischen Harter Ort und Rennbaumhuk dann zwei singende Karmingimpel. Diese Vogelart – namensgerecht im männlichen Geschlecht karminrot gefiedert an Kopf und Brust – hatte ich erst nach der „Wende“, der Wiedervereingung des geteilten Deutschlands, auf dem Darss kennengelernt. Der mir unbekannte Gesang erregte meine Aufmerksamkeit, und dann bekam ich ihn zu Gesicht. Der Karminginpel schickt sich in den letzten Jahrzehnten an, aus dem russischen und baltischen Raum heraus die deutsche Ostsee- und Nordseeküste zu besiedeln. In neuester Zeit gibt es in Deutschland bereits erste Nachweise aus dem Binnenland. Diese scheinen zu bestätigen, dass die Art im Begriff ist, ihr Vorkommensareal weiter westwärts auszudehnen. Hat man die unverkennbare Rufreihe des Karmingimpels einmal bewusst gehört, so wie ich im „Fischland“ und dem Darss, dann vergisst man die Rufreihe nicht mehr; und da dieser schmucke Vogel selten anzutreffen ist, stellt man als Vogelbeobachter die „Lauscher“, und – zumindest ist dies bei mir der Fall – spürt so etwas wie ein Kribbeln oder ein „Elektrisiertsein“.
Unmittelbar neben dem Strandweg nach Vitte, auf einer einzeln stehenden Kiefer zwischen den zum Strand hin ausgerichteten Häusern, fällt mir ein weißer Fleck ins Auge. Ich mag es kaum glauben, doch beim Näherkommen – zumal nach dem Blick durch das Fernglas – bleibt kein Zweifel: Eine brütende Sturmmöwe in ihrem Nest, etwa 5 m hoch im Wipfel einer Kiefer! Nach Auskunft von Einheimischen scheint es, dass diese Hiddensee-Eigenart der Baumbrut von bei den Sturmmöwen auf der Insel Tradition hat. Auch auf Pollern sind Einzelbruten der Sturmmöwe an Hafeneinfahrten – auch vor Kloster – nicht selten. Im Normalfall ist die Sturmmöwe nur als Bodenbrüter anzutreffen: in kleineren oder größeren Brutgemeinschaften auf Inseln mit Grasbewuchs oder geschützten Halbinseln.