10.06.05: Am Morgen Regen, später hellt es sich auf. Ich treffe die begabte junge Porzellanmalerin Ina Henoldt, die ihre Stellung bei einer Porzellanmanufaktur in Dresden verlor und nun von „Hartz IV“ betroffen ist („…ich bin verharzt“), und den englischen Maler Lance Beeke, der in der Torbogen-Galerie seine Bilder ausstellt. Abends esse ich mit ihm zusammen im „(Zum) kleinen Inselblick“. Lance ist gut gelaunt, weil heute weitere zwei seiner Bilder, die er hier im Lokal hängen hatte (zwei weibliche Akte), verkauft wurden. So leistet er sich ausnahmsweise ein opulentes Mahl. Tagsüber wandere ich noch einmal am Fuß des Kliffs bis zur zweiten Treppe, steige die 367 Stufen hoch und wende mich in Richtung Swanti-Berg. Heute erst die dritte(!) Greifvogelbeobachtung, mit drei Arten: großer, nicht bestimmter Greif , Turmfalke und Sperber; am Nachmittag dann ein Kolkrabe am Dornbusch. Einzelne Karmingimpel hängen an den aus drei Tönen bestehenden „Standardgesang“ gelegentlich noch einen vierten Ton an, wobei der zweite Ton ansteigt. Meine Zeit auf der Insel geht dem Ende entgegen; auf dieser Insel, die mich von Beginn an und auch bei diesem Besuch wieder in ihren Bann gezogen hat: mit ihrem besonderen, einem reinen Licht, dem weiten Horizont, den langen Sonnenuntergängen an der Hucke, der ganz eigenen Atmosphäre des Kirchweges in Kloster; mit dem Gefühl der Harmonie und Freiheit auf den Höhen des Dornbusch, den wilden Steilhängen am Kliff, dem spröden Lied des Karmingimpels, dem Duft des blühenden Ginsters und der Heckenrosen; den Begegnungen mit Menschen wie Lance Beeke, der PorzellanmaIerin Ina, der Köchin im Imbiss-Kiosk in Kloster und mit Pfarrer Domrös…. Ich bin mir sicher, dass es mich auch künftig wieder nach Hiddensee ziehen wird, ganz gleich wie das Wetter oder andere Widrigkeiten mir mitspielen mögen. Einmal von der Insel verzaubert, für immer verzaubert! Meine Rückreise führt mich, nach wiederum zwei Stunden Schiffsreise, mit der Bahn von Stralsund durch flaches Land. Ödland und brach liegende Äcker wechseln mit Getreideflächen; dazwischen Waldinseln, Mischwald aus Birken und Kiefern; durch nie zuvor gehörte kleine Orte wie Demmin, Utzedel und Sternfeld führt die Fahrt entlang großflächiger Felder, bestellt mit Zuckerrüben, Mais und Getreide. Auf dem verlassen liegenden Bahnhof in Sternfeld durchsucht ein ärmlich gekleideter Mann unauffällig den Abfallkorb, zündet sich dann eine Pfeife mit einer kleinen Prise Tabak – einem Zigarettenstummel entnommen – an, die sogleich ausgeraucht ist. Einige Kilometer geht es nun eingleisig weiter, an Getreidefeldern und Viehweiden vorbei. Gnevkow und Altentreptow sind weitere, mir vom Namen her völlig unbekannte Ortschaften, die der Zug passiert. Im Wechsel ziehen Weiden, Waldinseln und große, mit Hafer bestellte Felder vorüber. Vorbei an Feuchtwiesen und einem Flusstal geht die Fahrt, und allmählich lässt die wellige, großräumig offene Landschaft erahnen, dass hier die einzigen Großtrappen in deutschen Landen noch ungestörte Feldflächen für ihre spektakulären Balzvorführungen und die Aufzucht ihrer Jungen finden. Sogar kleine Familien des südamerikanischen Nandus haben sich seit einiger Zeit in den weiträumigen Feldern Mecklenburg-Vorpommerns angesiedelt. Bald nähern wir uns dem ersten stadtähnlichen Ort: Neubrandenburg, wo einige graue Wohnsilos aus DDR-Zeiten den Reisenden resigniert grüßen; die Bahngleise entlang zieht sich – wie ich auch bei anderen Ortschaften beobachten konnte – ein langer Streifen mit Kleingartenparzellen hin, die offensichtlich in erster Linie der Grundversorgung ihrer Eigentümer mit Gemüse und Kartoffeln dienen. Bei Bug Stargard erstrecken sich teils waldige Moränenzüge, weithin mit Getreide bestellt. Bei Blankensee – immer noch Mecklenburg – die ersten Seen, begleitet von Wiesen und Brachland. Auch beim Passieren von Neustrelitz fällt die lange Kette von klein parzellierten Schrebergärten auf. Dazwischen immer wieder Kiefern- und Mischwald, und als wir Fürstenberg im Havelland erreichen, erstreckt sich ein großer See zur Seite der Bahnstrecke; Wald, Wiesen und wieder Trappenbiotope. Weitere Bahnstationen sind Gransee, wo erstmals eine mehr kleinbäuerliche Besiedlung erkennbar wird, Löwenberg – nun bereits in der Mark. Um meinen Anschlusszug in ‚Berlin Zoologischer Garten’ zu erreichen, muss ich in Oranienburg umsteigen, da der Zug umgeleitet wird. Schließlich nähern wir uns Berlin, passieren Falkensee und Berlin-Spandau, bevor ich endlich meinen Zug nach Mannheim – gerade zwei Minuten vor der Abfahrt des ICE – mit knapper Not erwische. Damit findet meine Rückkehr nach Hiddensee ihren prosaischen Abschluss, und das Tageseinerlei in Frankenthal nimmt wieder seinen Lauf.
V.H