17.05.97: Albinoni’s “Sonate in B-Dur”, dann von Buxtehude “Präludium und Fuge in C-Moll“, eine wahrhaft die Seele glättende Kombination von Bachtrompete – gespielt von dem jungen Brasilianer Dirceu Braz – und Orgel mit Horst Gehann. Mein kleiner Cassettenrecorder bringt mir himmlische Töne in mein kleines Pensionszimmer im Schulweg 12, nahe dem Hafen von Vitte. Es liegt nur wenige Minuten entfernt vom weitläufigen Ostseestrand; gen Süden in Richtung Dünenheide und Neuendorf, gen Norden in Richtung des nach dem längst erloschenen Kloster benannten Hauptortes, mit der alten Kirche der Fischer und Seefahrer. In Kloster hat man den in Richtung Nordosten gestreckten Bergrücken im Blick. Im Unterschied zu den aus Treibsand gebildeten, flachen Teilen im Süden von Hiddensee, wird der nördliche „Kopf“ der Insel von einem Moränenzug geformt, dem „Dornbusch“. An dessen Nord- und Nordwestflanke, bis hin zum Bogen des „Enddorns“, bricht der Bergrücken mit einem Steilufer – bei einer Fallhöhe bis zu 60 m – zum Meer hin ab. Den Beschreibungen des 1956 verstorbenen Pastors Arnold Gustavs ist zu entnehmen, dass die Morphologie des Dornbusch Analogien zu den diluvialen Höhen auf Rügen aufweist: Ebenso wie auf Rügen die Lehmmassive von Rugard und Granitz, oder im Norden Wittow und Jasmund, verdankt das Hochland des Dornbuschs drei von Zwischeneiszeiten unterbrochenen Eisvorstößen seine Entstehung. Abweichend von der Situation auf Rügen, wo die Kreideformation hochgepresst wurde und an die Oberfläche gelangte, steht die Kreideformation auf Hiddensee bei Vitte in einer Tiefe von 40 m an.
Von Kloster wende ich nach Grieben, einem aus wenigen Häusern bestehenden Weiler, der sich im Osten zwischen Bodden und „Dornbusch“ eingenistet hat. Hier hat mein langjähriger Malerfreund Lance Beeke aus England bei seinen jährlich mehrmonatigen Aufenthalten auf Hiddensee seine Heimstatt. Weiter in Richtung Norden teilt sich der Weg: zur Boddenseite erstrecken sich zwei Sandhaken – der „Alte Bessin“ und der „Neue Bessin“ – mehrere Hundert Meter in Richtung Osten. Gespeist von Sanden und Lehmen, die bei auflandigem Sturm vom Kliff ausgespült werden, wachsen sie Jahr für Jahr weiter hinaus. Am Altbessin teilen sichWeißdorn-Solitäre das Gebiet mit Sanddorn und anderem stachligen Gestrüpp. Feldlerchen in nie erlebter Anzahl setzen zum Singflug an. Sprosser – auch als „pommersche Nachtigall“ bekannt – säumen mit ihrem Stakkato-Gesang den Weg zur Südspitze. Auch hier belebt der Rotrückenwürger die Öde der Strauchlandschaft mit braunroten und grauen Farbtupfern. Seine spröde, wenig melodische Gesangsstrophe mag man ihm nachsehen. Entlang der Strandlinie geht eine spitzflügelige Zwergseeschwalbe der Tauchjagd auf Mini-Fischchen nach; mehrfach bleibt ihr mit angelegten Flügeln angesetzer Sturzflug und Tauchgang ohne Erfolg. Eine Rohrweihe, in schaukelndem Flug knapp über den Büschen und dem Reetgürtel auf Beutesuche, entzieht sich rasch dem Blick. Weiter führt mich der Weg zur Steilküste. Hier, wo der flache Strand des Bessin endet und das Kliff ansetzt, geben durch Sprengungen der Alliierten zerstörte Betonblöcke ihr Stahlkorsett frei. Es sind die Reste
einer Flakstellung, die Teil der einstigen Verteidigungsanlagen des „1000-jährigen Reiches“ war. Ein Jahrzehnt später werden auch diese Betonrudimente unter Sand begraben sein. Zwei Austernfischer mit ihren lackroten Schnäbeln, ebenso einzelne Brandgänse und rastende Graugänse sind von der Schutzhütte am „Alten Bessin“ auszumachen. An den Steilwänden des Kliffs schwärmen – ähnlich wie bei Ahrenshoop – Tausende von Uferschwalben vor ihren Nisthöhlen. In zahlreichen Kolonien löchern die Vögel mit ihren Brutröhren die Steilwände, vergleichbar der Schnittfläche eines Tilsiter Käses. Hoch über dem Kliffrand am „Enddorn“ lassen sich zwei Kolkraben – vermutlich ein Brutpaar vom „Dornbusch“ – von der Thermik tragen. Am Fuß des Steilufers kreuzen in größerer Flughöhe über mir immer wieder Ketten von zehn bis dreißig Kormoranen, die in lockeren Geschwadern in Richtung Nordosten auf das Meer hinausstreben. Ihr kreuzförmiges Flugild ist unverwechselbar. Mein Weg führt – wieder per Fahrrad wie von Vitte nach Grieben – zum „Rabenberg“. Auch dort ziehen – nomen est omen – zwei Kolkraben ihre ruhigen Kreise. Es folgt der „Rübenberg“, der den Blick weithin über den Alt- und Neu-Bessin freigibt: atemberaubend – für mich der wohl landschaftlich schönste Teil dieser Insel. Einen Endpunkt der Wanderung setzt der von Weidenstümpfen gesäumte, langgestreckte Teich nördlich von Kloster. Hier, wie überall an den Rändern der Rinderweiden am Dornbusch, auf denen neben den Kühen auch Schafe und Pferde ihre Weidegründe haben, ist die Grauammer ständiger Wegbegleiter. Nebelkrähen und die hier noch zahlreiche Dohlen vagabundieren allerorten auf Hiddensee.