30.05.05: Heute, am Montag, bestätigt der erste Blick aus dem Fenster die Ahnung des Wetterwechsels: der Himmel grau in grau, die dunklen Massen entladen im Laufe des Tages einen stetig strömenden Landregen. Trotz des teils kräftigen Dauerregens wage ich den Einstieg in den Höhenweg über dem westlichen Kliff etwa auf Höhe der „Hucke. Gleich unterhalb der Vogelwarte in Richtung Höhenweg höre ich ersten, kurz darauf den zweiten „singenden“ Karmingimpel; eigentlich ist es kein Gesang vergleichbar dem einer Amsel, einer Mönchsgrasmücke oder eines Gelbspötters. Vielmehr besteht der „Gesang“ aus einer schlichten Aneinanderreihung von drei – gelegentlich auch vier – kurz angestimmten Tönen, von denen der zweite deutlich höher liegt als der erste und der dritte Ton. Dann ertönt aus dem Mischwald das mir bekannte, aber lange nicht gehörte „Schwirren“ des im vergangenen Jahrzehnt in den deutschen Waldungen fast ausgestorbenen Waldlaubsängers. Die Grasmücken scheinen im Bereich des Hochlandes, mit seinen Busch- und Waldzonen, in fast allen Arten vertreten zu sein: Dorn-, Garten-, Mönchs-, Klapper- und Sperbergrasmücke. An zwei Stellen des Höhenweges – zunächst in unmittelbarer Nähe der lange Jahre leerstehenden und dem Verfall anheimgegebenen ‚Dietzenburg’ – ertönt aus dem Baumkronenbereich unverkennbar der melodische Gesang des Gelbspötters. Auch dieser ‚Langstreckenzieher’ ist in weiten Teilen seiner früheren Vorkommen in Deutschland inzwischen nicht mehr anzutreffen. Auf meinem Weg am Ostseestrand unterhalb des Höhenweges in Richtung Norden suche ich das Wasser mit dem Fernglas ab; und tatsächlich: unweit des Ufers am Kliff schwimmt ein ♂ der Eisente im Prachtkleid, fast genau an der Stelle und zur gleichen Jahreszeit, wie bei meinem Aufenthalt 1997. Offensichtlich befindet sich der Eiserpel in guter Verfassung, ist nicht verölt und hat sich auf seinem Weg zurück in das nordische Brutgebiet offenbar Zeit gelassen. Wenig später zeigt sich ein Paar Mittelsäger, die ich auch an den folgenden Tagen mehrfach an diesem Teil der Steilküste wiedersehe; vermutlich handelt es sich um ein hiesiges Brutpaar. Am Fuß des Steilufers, dort, wo sich oberhalb des Sandstrandes in die ersten Pflanzen angesiedelt haben, finde ich an der gesamten Strecke zwischen Kloster und dem Treppenaufstieg zum„Klausner“ nur drei Pflanzen des Meerkohls, davon eine junge Pflanze und zwei in Blüte stehende Exemplare. Der Meerkohl (Crambe maritima) erinnert an Grünkohl, wächst aber – wie der Name sagt – auf sandigen, leicht salzhaltigen Böden in Strandnähe am Meer. Der Blütenstand des Meerkohls, der als mehrjährige Pflanze mit einem kräftigen Wurzelstock überwintert, besteht aus zahlreichen weißen, bis zu 1 cm großen Blüten an einer verzweigten Traubenrispe. Der Meerkohl ist traditionell als Gemüse genutzt worden, diente dank seines hohen Gehalts an Vitamin C auf Seereisen früher zur Verhinderung von Skorbut, und wurde in jüngster Zeit als Gemüse neu entdeckt ,sogar als Delikatesse propagiert. Inzwischen ist der Meerkohl jedoch in seinem gesamten Verbreitungsgebiet – den Küsten der Nord- und Ostsee, des Atlantiks und des Schwarzen Meeres – so selten geworden, dass er unter Naturschutz gestellt wurde. Auch in Mecklenburg-Vorpommern wurde die Pflanze in die „Rote Liste“ der bedrohten Arten aufgenommen; die wenigen am Steilufer von Hiddensee verbliebenen Pflanzen zeigen die Berechtigung der Schutzbestrebungen. Denke ich zurück an den Sommer 1966, an die „Verlobungsreise“ mit meiner Monika nach Dänemark, so gab es damals in Nähe unseres Urlaubshauses an der Ostsee noch reichliche Vorkommen des Meerkohls, den wir zu einem schmackhaften Eintopfessen zu nutzen wussten. Ergänzen konnten wir das Kohlgericht durch ein Hagebutten-Dessert aus selbst gesammelten Früchten. Doch zurück nach Hiddensee: Mittag gibt es Hornfisch mit Bratkartoffeln. Beim Einkauf im kleinen Supermarkt von Kloster, dem „Inselmarkt“ – unmittelbar neben der Inselkirche gelegen – weckt der wiederholte Warnruf einer Silbermöwe, die auf einer auf dem Gelände des Friedhofes stehenden Kiefer sitzt, meine Aufmerksamkeit. Eine zweite Silbermöwe hat sich unweit auf einer Grünfläche niedergelassen. Sollte es sich hier um eine auf Hiddensee schon mehrfach – allerdings bei Sturmmöwen – beobachtete Baumbrut handeln? Die Vermutung bestätigt sich nicht, denn am späten Nachmittag treffe ich beide Silbermöwen nicht mehr an. Den ganzen Tag über rauscht der Regen gleichmäßig nieder; setzt der Dauerregen einmal für kurze Zeit aus, so starte ich erneut wenigstens zu einem kurzen Rundgang. Am Hafen von Kloster und am Beginn des Höhenweges höre ich erstmals einen Fitis singen. Mitten im Ort, neben dem Pfarramt, ruft ein Karmingimpel, und an der Pfarrwiese entdecke ich bei reizvoller Beleuchtung – für einen Augenblick fällt ein Lichtstrahl durch die schwere Wolkendecke – ein ♂ des Neuntöters. Auf den Wiesen zwischen Kloster und Grieben notiere ich Hausrotschwanz, Grünfink, Stieglitz, Girlitz und Feldlerche. Der Regen hält – bei abnehmender Stärke – bis zum Abend an. So hat sich der erste Tag, der Montag, für mich als durch und durch nasser Geselle eingeführt; eigentlich kann das Wetter nur freundlicher werden!