02.05.92: Anno 1725 besaß der Fischerort Wieck – östlich des Darsswaldes am Ufer des Bodstedter Boddens gelegen – schon 27 kleine Frachtsegler, die vor allem Holzladungen auf den Boddengewässern beförderten. So kam es, dass Wieck zur Blütezeit der Segelschifffahrt das wohlhabendste Dorf auf dem Darss wurde. Doch später ging dieser regional orientierte Verkehr stark zurück, und mit zunehmender Einführung der Motorschiffe verlagerte sich der Frachtverkehr in die Hafenstädte an der Nordsee. Hand in Hand mit dieser Entwicklung verarmte das Fischerdorf rapide, und seine Bausubstanz verfiel. In Wieck wohnt unter anderem die Malerin Ruth K., die ich – durch Vermittlung der mir befreundeten, in Ahrenshoop in der Fulge lebenden Malerin Dagmar Puttnies-Munk – besuche. Frau K., besonders aber ihr Mann, können ihre Verbitterung nicht verbergen: über die „Wessies“, über deren Auftreten als „Großkotze“ und dominierende Bauherren auf dem Darss. Auch die – zumindest als solche empfundene – Verschlechterung der persönlichen Situation wird beklagt. Andernorts dagegen habe ich auf dem Darss nicht Selbstmitleid, sondern „Aufbruchsstimmung“ und persönliche Initiative verspürt. Dennoch wird man in einigen Gaststätten und Cafés noch mit dem gleichgültigen, wenig gastorientierten Service aus DDR-Zeiten konfrontiert.
Der Darss, ein „herrlich Kleinod von Hölzung“, wie in früher Zeit ein Reisender die Landschaft beschreibt, umschließt eine Fläche von 56 km². Seit 1957 ist der Darsser Wald als Naturschutzgebiet ausgewiesen. Auf dem Altdarsser Kliff, dem Land gewordenen Strandwallrücken, reihen sich urig verzweigte Rotbuchen. Zu den dickstämmigen Buchen gesellen sich Ilex, Sumpfporst, Gagel, Efeu und Geißblatt. Zu diesem Landschaftstyp – auch „Hudewald“ genannt – gehören ebenso knorrige Kiefern, die auf einstigen Dünenhängen wachsen; außerdem Moorbirken und einzelne Eiben. Neben Schwarzkiefern recken sich auf den Lichtungen einzeln stehende mächtige Eichbäume. Die sandigen Wege werden von Rot- und Sitkafichten gesäumt. Charakteristisch für den landschaftlichen Charakter des „Neu-Darss“ ist – analog zur Formenbildung im Mittel- und Südteil der Insel Hiddensee – der Wechsel zwischen erhöhten Dünenzügen, den „Reffen“, und moorigen Dünentälern, den „Riegen“. Eine Erlenbruchlandschaft, in deren Senken haben sich kleine, nährstoffarme Seen gebildet haben, und wo sich in stillen, moorigen Tümpeln klares, schwarzes Wasser angesammelt hat. Diese Bruchlandschaft bietet ideale Bedingungen für die Brut und Jungenaufzucht der Kraniche, die ihren umfangreichen Neststand erhöht auf kleinen Porst-Inseln anlegen. Bei dem Wechsel von lichten und schattigen Flecken sind die großen Schreitvögel selbst auf nähere Distanz hier kaum auszumachen. An den etwas trockeneren Stellen verliert man sich unversehens in übermannshohem Dickicht aus Adlerfarn, und sieht sich als Opfer von Myriaden angriffsbereiter, schwarzer Stechmücken. Der anschwellende, hohe Summton alarmiert den Fluchtinstinkt, begleitet er doch stets den Anflug der blutdürstigen Schwärzlinge. Am Weststrand, wo die Bäume nahe der Abbruchküste den Stürmen besonders ausgesetzt sind, nehmen sie häufig eine in Windrichtung gebeugte Form an; dünn und zerzaust trotzen diese hageren „Windflüchter“ ihrem drohenden Schicksal, von den anbrandenden Wellen unterspült zu werden. Meine Tagestour führt per Fahrrad und zu Fuß von Wieck aus durch den Darss, via „Wiecker Postweg“ und „Linker Weg“ bis „Großer Stern“, weiter in Richtung Norden am Denkmal vorbei, bis in den Seitenweg nach Westen - an der Forsthütte vorbei - zum Müller-Graben. Mitten im Bruchwald fliegt vor mir – kaum mehr als zehn Meter entfernt – unvermittelt ein Kranich auf. Da er vermutlich hier in der Nähe auf einer Porstinsel seinen Neststand hat, verlasse ich rasch die kleine Lichtung. Weiter führt mich der Hauptweg (K-Gestell) gen Norden. Am „Langseer Weg“ biege ich ab in Richtung Westküste, wo hinter dem Abbruchufer die von Wind und Wetter verformten, isoliert stehenden Windflüchter um ihr Überleben kämpfen. Vom Hauptweg, wende ich mich gen Nordwesten, bis zum zum Leuchtturm. In der Imbissstube erwartet mich dort eine kleine, mäßig schmeckende Fischsuppe für 7.50 DM. Der kurze Rundweg im Feuchtgebiet am Leuchtturm ohne bemerkenswerte Beobachtungen. Via „Großer Stern“ und „Peters Kreuz“ zurück nach Wieck: Von diesem Tag an Vogelarten: Kranich, Kolkrabe, Schwarzspecht, Baumpieper,Waldlaubsänger, Tannenmeise und Birkenzeisig. Seit langem höre ich einmal wieder die klangvollen, in so unterschiedlicher Tonlage und Klangfärbung angestimmten Rufe der schwarzblau-metallisch schimmernden Odinsvögel, der Kolkraben.
Seit meiner Kindheit, als ich von unserem am Schulensee bei Kiel gelegenen Garten aus meinen ersten Vogelbeobachtungen nachging, faszinieren mich die Kolkraben. Die im Mai über Buchenbeständen ruhig kreisenden bussardgroßen Raben, deren melodische Rufe weit tragen, habe ich von Kindheit an mit dem Begriff „edel“ verbunden. Als Botschafter des Gottes Odin, auf dessen Schultern sie sitzen, sind die beiden Raben Hugin und Munin zu Göttervögeln geworden. Begegnungen mit den Nachfahren der Odinsboten wecken bei mir bis heute ein Gefühl der Ergriffenheit.
Bisher in Mecklenburg-Vorpommern noch relativ verbreiteter Brutvogel, wurde der Kolkrabe, mein „Sagenvogel“, auf dem Darss leider zur Bejagung freigegeben. Doch noch gibt es sie: In kleinen Gruppen verteilen sich 30-50 (!) Kolkraben über die Wiesen und den Bereich der inselhaft in die Wiesen eingestreuten Kiefernwäldchen. Im Sonnenlicht überzieht sich ihr schwarzes Gefieder mit einem metallisch blauen Schimmer. In Sturzflügen, Loopings und Scheinangriffen auf ihren Partner markieren sie ihr Brutrevier und stärken die Paarbindung.